Die kleine Revolution

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Moderne Architektur mitten auf dem Land

Vetternwirtschaft, Korruption und Machtmissbrauch. Davon hatten Zehntausende von Armenierinnen und Armeniern in diesem Frühling genug. Sie gingen tagelang auf die Strassen der Hauptstadt Jerewan, um zu demonstrieren gegen die langjährigen Machthaber. Die „samtene Revolution“, wie sie bald genannt wurde, war erfolgreich. Der frühere Journalist und Dissident Nikol Pashinyan, der die Protestbewegung angeführt hatte, wurde im Mai vom Parlament zum neuen Ministerpräsidenten gewählt, obschon seine Partei keine Mehrheit hat.

Es war eine städtische Revolution. Sie spielte sich in Jerewan ab, geprägt von jungen Menschen, welche die Sowjetzeit nur noch vom Hörensagen kennen und weniger autoritätsgläubig sind als die älteren Generationen. Wer Jerewan in diesen Tagen besucht, spürt die Aufbruchstimmung. Das Leben pulsiert in der Metropole, die mit ihren vielen Strassencafés und Jazzkellern ein kosmopolitisches Flair verströmt.

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Eingangsbereich des Smart-Centers in Lori

Wer Jerewan verlässt, ist jedoch rasch in einer ganz anderen Welt. Wir fahren ganz in den Norden Armeniens, in die Provinz Lori. Sie wurde 1988 von einem schweren Erdbeben hart getroffen, dessen Narben bis heute nicht verheilt sind. Lori ist eine der ärmsten Gegenden des Landes und die Fahrt von Jerewan hierher ist wie eine kleine Zeitreise. Knapp die Hälfte der Bevölkerung lebt in Lori heute noch von der Landwirtschaft. Die Gegend leidet an Landflucht. Viele junge Menschen sehen in Lori keine Zukunft für sich selber. Sie ziehen weg nach Jerewan, aber vor allem ins Ausland, nach Russland oder Georgien.

Aber es tut sich etwas. Krist Marukyan ist jedenfalls davon überzeugt, dass auch in Lori Aufbruchstimmung herrsche. Er arbeitet für den Children of Armenia Fund (COAF), eine von Exil-Armeniern gegründete Hilfsorganisation, die in den ländlichen Gebieten Armeniens tätig ist. Krist Marukyan sagt stolz: „Bei uns spielt sich ebenfalls eine Revolution ab.“ Damit meint er ein futuristisch anmutendes Gebäude, das der libanesische Architekt Paul Kaloustian entworfen hat und diesen Sommer eröffnet wurde. Es wirkt wie ein unförmiges Raumschiff, das mitten im Grünen, in dieser menschenarmen Gegend gelandet ist. 5,5 Millionen Dollar hat sich die Hilfsorganisation das Gebäude kosten lassen. Prominente Gönner wie Schauspieler Leonardo DiCaprio oder Künstler Jeff Koons haben sich an der Finanzierung beteiligt.

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Kaffee-Ecke im Smart-Center

Das Gebäude ist das erste sogenannte „Smart Center“ der Hilfsorganisation. Krist Marukyan leitet das Zentrum. Von hier aus wollen er und seine Mitstreiter die Bevölkerung der Umgebung erreichen, insgesamt 150’000 Menschen. Diese sollen die Möglichkeit haben sich weiterzubilden. Das Angebot ist riesig. Die Einheimischen können Englisch büffeln, Programmieren lernen (der IT-Sektor boomt in Armenien) oder werden mit den neuesten landwirtschaftlichen Anbautechniken vertraut gemacht. Das Zentrum will jedoch auch die Gesundheitsversorgung in der abgelegenen Gegend verbessern mit regelmässigen Sprechstunden für die Bevölkerung. Hinzu kommen Freizeitangebote wie Musik-, Tanz- oder Theaterkurse. „Unser Ziel ist es, den Menschen in der Umgebung einen Grund zu geben, hier zu bleiben und nicht in die Städte abzuwandern“, sagt Krist Marukyan.

Wie das funktionieren könnte, zeigt das Beispiel von Sargis Davoyan, einem 15-jährigen Teenager aus einer kleinen Ortschaft in der Provinz Lori. Dort lebt er mit seiner Mutter. Sein Vater und sein Bruder sind nach Russland ausgewandert. „Dass ein Teil der Familie weggeht, ist völlig normal, weil es bei uns viel zu wenig Jobs gibt“, sagt Sargis. Er besucht nun im „Smart Center“ einen zweijährigen Englisch-Kurs, der ihm gratis angeboten wird. Er hofft, mit dieser Grundlage eines Tages studieren und letztlich in Armenien bleiben zu können.

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Bibliothek

Interessant ist das Konzept des „Smart Centers“. Ihm angeschlossen sind weitere „Smart Rooms“ in der Umgebung. Diese sind wesentlich kleiner, haben aber ebenfalls eine Infrastruktur für Sprach- und Computerkurse. Von dort aus kann man zudem per Video-Konferenzschaltung an Kursen teilnehmen, die im grossen Zentrum stattfinden. Die „Smart Rooms“ haben aber noch eine andere Funktion. Sieben von ihnen befinden sich an der Grenze zu Aserbaidschan. Dort ist die politische Lage angespannt. Wegen Grenzstreitigkeiten zwischen Armenien und Aserbaidschan kommt es bisweilen zu Schusswechseln. Die „Smart Rooms“ dienen der lokalen Bevölkerung als Schutzräume. Sie können im Notfall bis zu 150 Leute zwei Tage lang beherbergen.

Die Hilfsorganisation COAF ist ein gutes Beispiel dafür, dass man in Armenien stark auf die Hilfe der grossen Diaspora im Ausland setzt. Drei Millionen Menschen leben in Armenien – doppelt so viele Armenier im Ausland. Viele der Exil-Armenier wollen mithelfen, dass die Kaukasus-Nation vorwärts macht. Hinter COAF steht Garo Armen, ein amerikanischer Unternehmer mit armenischen Wurzeln. Er gründete die Hilfsorgansiation vor 15 Jahren, weil er bei einem Besuch in Armenien schockiert feststellte, dass auf dem Land viele Kinder nicht zur Schule gingen, kaum Zugang zu sauberem Wasser hatten und ihre medizinische Versorgung prekär war. Um die Landflucht zu stoppen oder einzudämmen, bräuchten die jungen Leute eine Perspektive, war er überzeugt.

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Im Gespräch mit Innesa Grigoryan

„Unsere Hilfsorgansation begann sehr klein – in einem einzigen Dorf“, sagt Innesa Grigoryan, stellvertretende Direktorin von COAF. Sie selber arbeitet seit der Gründung der Organisation an vorderster Front mit. Sie erzählt: Man habe damals das Dorf Karakert in der Provinz Armavir zur Modell-Gemeinde erklärt. COAF habe das Schulhaus renoviert, Wasserleitungen und einen öffentlichen Park gebaut,  Freizeitaktivitäten für Kinder organisiert, Kerosin-Öfen in den Wohnhäusern durch weniger gefährliche Heizungen ersetzt und medizinische Untersuchen für Frauen eingeführt. „Das Geld für unsere Arbeit sammeln wir in den USA“, sagt Innesa Grigoryan. Jedes Jahr im Dezember findet ein grosser Fundraising-Anlass in New York statt, seit 2004 konnten auf diese Weise rund 40 Millionen Dollar zusammengetragen werden. Aus dem einen Modelldorf sind mittlerweile 44 Gemeinden geworden, die von COAF unterstützt werden. „Bei jedem Dorf gehen wir gleich vor: Wir fragen zuerst die Bevölkerung, was sie braucht, und versuchen dann, gemeinsam mit den Bewohnern die gewünschten Verbesserungen zu erzielen.“

Nach dem gleichen Prinzip will COAF auch bei den „Smart Centers“ vorgehen. Jenes in Lori soll erst der Anfang sein, bald schon soll es viele solche Zentren geben. Die Ziele sind ambitioniert. „Wir wollen mit unseren Programmen irgendwann rund die Hälfte der armenischen Bevölkerung erreichen“, sagt Innesa Grigoryan. Möglichst viele junge Armenierinnen und Armenier sollen Zugang zu Weiterbildung haben und von einer guten Gesundheitsversorgung profitieren. Denn beides ist keine Selbstverständlichkeit in einem Land, von dem die Weltbank schätzt, dass mehr als 40 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze von 5.50 Dollar pro Tag lebt – und das in den letzten zehn Jahren rund zehn Prozent der Menschen verloren hat, weil diese mangels Perspektiven ins Ausland abgewandert sind.

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Computer-Arbeitsplätze mit Aussicht

Krist Murkyan, der Leiter des „Smart Centers“ in Lori findet, dass sich der Einsatz von COAF bereits gelohnt hat. Er ist überzeugt: COAF habe auch einen kleinen Beitrag zur „samtenen Revolution“ geleistet. Früher seien die Menschen auf dem Land schlechter gebildet gewesen als heute „und haben den politischen Führern einfach alles geglaubt“. Dank Programmen wie jenem von COAF, das sich an die Landbevölkerung richtet, sei das heute anders. Und deshalb würden korrupte Politiker heutzutage hinterfragt – und bisweilen auch gestürzt.

Fotos: Andreas Beglinger