Revolution, Klöster und Jazz

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Gläubige im Kloster Tatev

Unsere Reise nach Armenien beginnt mit Blitz und Donner. Nicht, dass wir von diesem Gewitter etwas sehen, aber es hält uns in Basel fest. Nach Armenien gibt es keine Direktflüge aus der Schweiz, also haben wir die Reise mit einem Zwischenstopp in Wien geplant. Das Flugzeug, das uns von Basel aus nach Österreich bringen soll, hängt jedoch wegen des Gewitters in Wien fest. Es kommt mit zweistündiger Verspätung, weswegen wir unseren Anschlussflug in die armenische Hauptstadt Jerewan verpassen. Wir müssen ungewollt einen Tag in Wien verbringen. Es gibt Schlimmeres.

Mit einem Tag Verspätung kommen wir schliesslich in Jerewan an. Wir haben uns im Vorfeld der Reise entschieden, die Hauptstadt zu unserem Hauptquartier zu machen und von hier aus verschiedene Tagesausflüge zu planen. Armenien ist mit seinen knapp 30’000 Quadratkilometern nicht allzu gross, so dass sich das Land bestens auf diese Weise bereisen lässt. Wir checken also ein im Hotel Republica, einem modernen, stilvoll eingerichteten Haus, und erkundigen als Erstes die Stadt.

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Jerewan, eine lebendige Stadt

Zum Zeitpunkt unserer Reise hat Armenien turbulente Wochen hinter sich. Die Wochen, der „samtenen Revolution“. Zehntausende von Bürgerinnen und Bürgern gingen tagelang auf die Strassen, um zu demonstrieren gegen die langjährigen Machthaber. Die Leute protestierten so lange, bis die Regierung abtrat. Der frühere Journalist und Dissident Nikol Pashinyan, der die Protestbewegung angeführt hatte, wurde zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Als wir in Jerewan sind, glauben wir, diese Aufbruchstimmung zu spüren. Die „samtene Revolution“ war ein Protest, der von jungen, urbanen Menschen geprägt war. Und im Strassenbild sehen wir viele dieser jungen Leute. Sie sitzen in den schicken Strassencafés der Innenstadt, treffen sich dort mit Freundinnen und Freunden oder schlagen ihre Laptops auf. Wir sind überrascht vom kosmopolitischen Flair Jerewans. Kein Vergleich mit der Atmosphäre in anderen postsowjetischen Staaten, die wir in den Jahren zuvor bereist haben.

Zunächst tauchen wir aber ein ins alte Jerewan. Wir spazieren durchs Kond-Quartier, das an einem Hügel am Rande der Stadt liegt. Das Quartier entstand im 17. Jahrhundert und war von Anfang an multiethnisch. Hier lebten nicht nur armenische Christen, sondern auch Muslime. Später fanden zahlreiche Flüchtlinge ihr Zuhause. Charakteristisch sind die engen Strassen und die niedrigen Steinhäuser, die jedoch vielfach in einem schlechten Zustand sind. Es ist ein lebendiger Ort. Kinder spielen auf der Strasse, Männer reparieren ihre Autos oder messen sich beim Backgammon. In den 80er-Jahren, noch während der Sowjetzeit, gab es Pläne, das Quartier zu renovieren. Sie wurden aber nie umgesetzt. Und so ist einer der letzten halbwegs intakten alten Stadtteile dem Zerfall ausgesetzt.

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Kinder spielen in den engen Gassen des Kind-Quartiers

Wir verlassen das Kond-Quartier und fahren mit dem Taxi an einen anderen Ort Jerewans, an dem man in die Geschichte eintaucht. Wir fahren zur Genozid-Gedenkstätte. Sie erinnert an den Völkermord im Osmanischen Reich an den Armeniern. An den Völkermord, den die Türkei bis heute leugnet. 1915 verhafteten die türkischen Behörden in Istanbul die armenische Führungsschicht. Es folgte die Vertreibung und Vernichtung der Armenier. Bis zu 1,5 Millionen Menschen sollen dabei ums Leben gekommen sein. Bei der Gedenkstätte handelt es sich um einen riesigen Park oberhalb der Stadt. Zahlreiche ausländische Staatsoberhäupter oder religiöse Führer haben Tannen für den Park gespendet.

Die Gedenkstätte im Park wurde eingerichtet zum 50. Jahrestag des Völkermords im Jahr 1965. Entstanden ist ein typisch sowjetischer Monumentalbau. Zwölf gewaltige Pylonen aus Basalt umfassen die ewige Flamme. Daneben ragt ein 40 Meter hoher Obelisk in den Himmel, ihm gegenüber erstreckt sich eine hundert Meter lange Mauer mit den Namen der Städte und Dörfer, in denen 1915 Massaker gegen Armenier stattgefunden haben. Unter dem Monument befindet sich ein Museum, in dem Texte und Fotos von der Brutalität der damaligen Ereignisse zeugen. Draussen, von der Gedenkstätte aus, schliesslich sieht man den Ararat, den heiligen Berg der Armenier und sagenumwobenen Fundort der Arche Noah. Er liegt jedoch auf türkischem Staatsgebiet. Auch eine Folge der Geschichte, die es nicht gut gemeint hat mit den Armeniern. Ein grosser Teil ihres historischen Siedlungsgebiets liegt heute auf fremdem Staatsgebiet.

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Die Völkermord-Gedenkstätte oberhalb Jerewan.

Unseren ersten Tag in Jerewan lassen wir ausklingen auf der Kaskade. Ein merkwürdiges Bauwerk. Es handelt sich um eine riesige Treppe aus hellem Stein mit 572 Stufen, die im Zentrum der Hauptstadt einen Hang hinaufführen. Erste Pläne für diesen gigantischen Bau gab es in den 1930er-Jahren. Die Sowjetführung liess die Treppe aber erst in den 1970er-Jahren bauen. Anlass war der 50. Geburtstag der Sowjetisierung Armeniens. Die Treppe ist nie ganz fertig geworden, einzelne Teile sehen immer noch aus wie Provisorien.

Wir steigen die Treppe hoch, weil man von ihrer Spitze einen schönen Ausblick auf Jerewan erhält. Und weil wir eine Statue besichtigen wollen, die wir von unten gesehen haben. Es handelt sich um eine 50 Meter grosse Frauen-Figur, die ein Schwert in den Händen hält: Mutter Armenien. Die Statue wurde 1967 aufgestellt und ersetzte damals eine grosse Stalin-Figur. Im Innern der Mutter Armenien befindet sich ein Museum. Die Kaskade gefällt uns, weil es ein schöner Ort ist, um die Abendstunden zu verbringen. Man sieht die Sonne untergehen hinter der Stadt, Jung und Alt kommt hierher, um zu flanieren. Am Fusse der Kaskade gibt es zudem zahlreiche Restaurants und Cafés.

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Kaskade in Jerewan

Da wir während unserer Armenien-Reise abends nach Tagesauflügen jeweils wieder nach Jerewan zurückkehren, haben wir ausreichend Gelegenheit, die Restaurants der Stadt zu erkundigen. Ein erfreuliches Erlebnis. Toll ist beispielsweise das Dolmama. Es serviert traditionelles Essen. Bekannt ist es, der Name sagt es, für Dolma: ein armenisches Gericht, bei dem eine Hackfleisch-Reis-Mischung in Weinblätter gerollt wird. Jerewans Gastro-Szene ist aber nicht nur traditionell: So geniessen wir den Abend im Dargett Brewpub. Dargett ist das erste Craft-Bier Armeniens, gegründet im Jahr 2016. Die Auswahl an eigenen Bieren ist beeindruckend.

Jerewan hat aber auch eine lebendige Jazz-Szene. Es gibt international bekannte Künstler wie Tigran Hamasyan. Wir besuchen ein Lokal namens The Club. Es handelt sich um eine spannende Mischung aus Galerie, Restaurant und Konzert-Lokal. Wir steigen ins Untergeschoss und nehmen an einem Zweiertisch Platz. Serviert wird moderne armenische Küche. Wir probieren dazu – natürlich – armenischen Wein. Die Besitzer des Lokals haben auch ein eigenes Weingut. Das Beste an The Club ist aber: Jeden Abend gibt es Live-Musik. Bei uns sind es zwei Jazz-Pianisten, die ihr Können zeigen. Später wollen wir dann noch ein anderes Jazz-Lokal besuchen. Eines, das opulent eingerichtet ist mit viel Holz und schweren Stühlen. Leider ist es ausgebucht.

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Blick von der Kaskade über Jerewan

Die meiste Zeit bei unserer Armenien-Reise verbringen wir jedoch nicht in Jerewan, sondern unterwegs im Land. Wir haben uns über den armenischen Reiseveranstalter Hyur einen Fahrer besorgt. Norik holt uns am zweiten Vormittag nach unserer Ankunft in Armenien im Hotel ab und nimmt uns gleich mit auf einen Zweitagestrip in den Süden des Landes.

Erste Station ist das Kloster Khor Virap. Wir sehen es von Weitem und der Anblick ist atemberaubend. Das Kloster liegt auf einem kleinen Hügel und dahinter erhebt sich der schneebedeckte Gipfel des Ararats. Im Kloster selber stellen wir fest, dass sehr viele Touristen unterwegs sind. Immer wieder laden Busse Horden von Besuchern ab. Das ist logisch, weil es sich um die berühmteste Pilgerstätte Armeniens handelt. Die vielen Leute stören ein wenig die Atmosphäre, aber das Kloster unmittelbar vor dem heiligen Berg hat trotzdem eine schöne Aura.

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Khor Virap mit dem Ararat im Hintergrund

Wir fahren weiter und lassen uns einweihen in die Kunst des traditionellen Brotbackens. Wir besuchen ein Ort, wo Frauen ungesäuerte Fladenbrote herstellen, sogenannte Lavasch-Brote. Die Frauen vermischen Mehl, Salz und Wasser zu einem Teig und kleben ihn auf die heissen Flächen eines offenen Backofens. Ein paar Minuten später entfernen sie den Teig wieder vom Backofenrand – fertig ist das Brot.

Man sieht den Frauen an, dass die Arbeit am heissen Ofen anstrengend ist. Das frische Brot ist herrlich. Es lässt sich formen, mit Frischkäse und Kräutern füllen und stellt einen wunderbaren Snack dar.

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Eine Frau bereitet den Teig für ein Lavasch-Brot zu.

In der Ortschaft Areni, südlich von Jerewan, besuchen wir das Weingut „Hin Areni„. Was viele in der Schweiz gar nicht wissen: Armenien ist eines der ältesten Weinländer der Welt. Bei der Führung durch die Produktionsstätten erzählt man uns, dass in der Gegend seit mehr als 6000 Jahren Wein produziert wird. Das Weingut wurde aber erst 1994 gegründet. Das Datum, kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, ist kein Zufall. Während der Sowjetzeit wurde in Armenien kaum mehr Rot- oder Weisswein produziert. Die Trauben wurden verwendet, um Cognac herzustellen.

Nach dem Abzug der Sowjets verfielen viele Rebberge. Bis eben wieder neue Weingüter aufgebaut wurden. Aktuell hat Armenien rund 17’000 Hektaren mit vorwiegend einheimischen Reben. Die Voraussetzungen für Weinbau sind mit bis zu 300 Sonnentagen, kühlen Nächten und Kalksteinböden ideal. „Hin Areni“ verfügt über modernste Maschinen aus Frankreich und Italien, um den Wein herzustellen. Derzeit produziert man 150’000 Flaschen im Jahr, rund 20 Prozent werden nach Russland exportiert. Arenis Weine sind übrigens auch beliebt bei Rotweintrinkern im Iran. Im Gottesstaat ist Alkohol bekanntlich verboten. Iranische Lastwagenfahrer legen auf dem Weg nach Teheran häufig noch einen Zwischenhalt in Areni ein. Rotwein hat glücklicherweise eine ähnliche Farbe wie Coca-Cola, deshalb füllen ihn die geschäftstüchtigen Armenier in Plastikflaschen ab, die sie auf Holzregalen am Strassenrand an die iranischen Fernfahrer verkaufen. Diese schmuggeln ihn auf diese Weise über die Grenze.

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Noravank

Wir fahren weiter in den Süden. Über eine schmale Strasse, die von Felsen gesäumt wird, gelangen wir zum Kloster Noravank. Es stammt aus dem 13. Jahrhundert. Danach beschliessen wir den Tag mit einem Besuch im Vorotnavank-Kloster. Es ist noch älter. Die Kirche auf der Klosteranlage wurde im Jahr 1000 fertiggestellt. Mir persönlich gefällt die Ruhe. Es ist wunderschön durchs hohe Gras des Friedhofs zu streifen und alte Grabsteine anzuschauen. Nach einem langen Tag unterwegs kommen wir schliesslich abends im Eco Resort Harsnadzor an. Wir übernachten in Holzhütten, die wie grosse Fässer aussehen.

Am anderen Tag stehen wir ziemlich früh auf, um zu den ersten Touristen zu gehören, die die Luftseilbahn von Tatev besteigen. Sie wurde im Oktober 2010 eingeweiht, um ein mittelalterliches Kloster zu einem Ausflugsziel zu machen. „Wings of Tatev“ heisst die Bahn – etwas pathetisch. Die Aussicht während der Fahrt ist aber sehr schön. Auf den 5,7 Kilometern überblickt man die tiefe Schlucht, die der Fluss Vorotan in die Landschaft geschnitten hat. Das Kloster Tatev, das wir auf diesem Weg erreichen, gilt als eines der bedeutendsten Architekturdenkmäler Armeniens. Auf dem grossen Gelände des Klosters befinden sich drei Kirchen. Wir erklimmen einen kleinen Hügel unweit des Klosters. Von dort ist der Blick auf die Anlage besonders schön: Man sieht, wie sie auf einen Felsen gebaut wurde.

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Tatev

Auf dem Weg vom Süden zurück nach Yerevan machen wir noch einen Stopp in Karahunj, quasi das Stonehenge Armeniens. Es handelt sich um ein Gräberfeld aus der Bronzezeit. Wissenschaftler gehen davon aus, dass es zwischen dem 20. und dem 16. Jahrhundert vor Christus angelegt wurde.

Welche Bedeutung es hat, darüber streiten sich die Experten. Das Schöne an dieser Stätte ist, dass sie – anders als Stonehenge – frei begehbar ist. Dies könnte sich in den kommenden Jahren jedoch auch zu einem Problem entwickeln. Kritiker haben jedenfalls bereits bemängelt, dass sich der Zustand der Stätte laufend verschlechtert.

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Karahunj

Es sind viele Kloster, die wir in Armenien besuchen. Das schönste Erlebnis haben wir am vierten Tag. Wir sind sehr früh unterwegs und das ist unser Glück. Norik, unser Fahrer, bringt uns direkt nach Geghard. Es befindet sich in einer Schlucht und die Räume sind teilweise in den Fels gehauen. Das Kloster ist eines der bedeutendsten Zeugnisse der Armenischen Apostolischen Kirche und anerkannt als Unesco-Welterbe. Eindrücklich ist unser Besuch, weil wir an diesem Tag die ersten Besucher sind. Als wir dort eintreffen, befinden sich bloss einige Mönche im Kloster.

Es ist ein sehr intimer Moment, als ein Priester mit Weihrauch einen Raum segnet, in dem wir ausser ihm selber die einzigen Menschen sind. Ohne die in anderen Klöstern obligaten Touristenströme strahlt ein Ort wie dieser einen wesentlich grösseren Zauber aus. Wir nehmen uns deshalb auch aussergewöhnlich viel Zeit, das Kloster von allen Seiten zu betrachten und die Atmosphäre zu geniessen. Erst, als der erste Bus voller Besucher kommt, ziehen wir weiter.

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Im Kloster Geghard

Armenien ist das Land der Klöster. An diesem Tag steht jedoch noch ein ganz anderes Bauwerk auf unserem Programm. Ein Tempel, der eine Mischung von griechisch-römischer und armenischer Baukunst darstellt. Er steht in der Kleinstadt Garni.

Der Tempel wurde vermutlich im 2. Jahrhundert gebaut – mit Geld, das der lokale König in Rom bei einem Besuch von Kaiser Nero erhalten hatte. Er ist eines der wenigen Zeugnisse der Zeit, bevor das Christentum nach Armenien kam.

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Garni-Tempel

Tags darauf fahren wir an den Sevan-See. Dabei handelt es sich um den grössten Süsswassersee im Kaukasus, etwa doppelt so gross wie der Bodensee. Es ist ein Sehnsuchtsort vieler Armenier. Mit zahlreichen Stränden und touristischer Infrastruktur zieht er in den Sommermonaten viele Touristen an. Der See selber war während der Sowjetzeit der Schauplatz einer ökologischen Katastrophe.

Unter Stalin wurde dermassen viel Wasser für die Landwirtschaft und die Stromgewinnung vom See abgezogen, dass der Pegel sank. In den 1960er-Jahren musste man befürchten, dass der See aus dem Gleichgewicht geraten könnte. Es wurden glücklicherweise aber schliesslich zwei Tunnels gebaut, um den Wasserstand zu stabilisieren. Seither steigt der Wasserpegel wieder. Rund um den See gibt es – wer würde es denken? – wunderschöne Klöster. Beispielsweise Sevanavank, wo bei unserem Besuch Blumenwiesen eine dermassen tolle Kulisse bilden, dass viele verliebte Paare hier Fotos von sich schiessen.

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On the road again

Für uns geht es an diesem Tag noch zu weiteren Klöstern. Dabei gefällt uns vor allem Hovhannavank. Mit seinem Bau wurde im 5. Jahrhundert begonnen, die meisten Bauten stammen aber aus dem 13. Jahrhundert.

Uns gefällt es, weil seine Lage aussergewöhnlich ist: Es befindet sich direkt am Rand einer Schlucht. Zudem sieht man in der Ferne den Ararat, den heiligen Berg.

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Hovhannavank

Am nächsten Morgen heisst es für uns: Rucksäcke packen. Norik, unser Fahrer, bringt uns an diesem Tag mit seinem Auto von Jerewan ins Nachbarland Georgien, nach Tiflis. Die Fahrtzeit beträgt etwa sechs Stunden. Wir haben aber noch zwei Zwischenstopps eingeplant. Kurz vor der Grenze, in der Provinz Lori, besuchen wir ein architektonisch spektakuläres Gebäude. Es ist das regionale Zentrum einer Hilfsorganisation. Da hinter diesem Zentrum eine interessante Geschichte steckt, habe ich darüber einen separaten Text geschrieben.

Den letzten Stopp machen wir schliesslich beim Kloster Haghpat. Es stammt aus dem 11. Jahrhundert und gehört zum Unesco-Weltkulturerbe. Es gilt als Meisterwerk der armenischen religiösen Architektur. Im Mittelalter war es ein bedeutendes Lernzentrum.

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Haghpat

Vom Kloster aus sind wir schliesslich in knapp einer Stunde an der Grenze zu Georgien. Der Grenzübertritt ist problemlos, die Formalitäten sind rasch erledigt. Und wir freuen uns auf eine spannende Zeit in Georgien.

Fotos: Andreas Beglinger

Die kleine Revolution

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Moderne Architektur mitten auf dem Land

Vetternwirtschaft, Korruption und Machtmissbrauch. Davon hatten Zehntausende von Armenierinnen und Armeniern in diesem Frühling genug. Sie gingen tagelang auf die Strassen der Hauptstadt Jerewan, um zu demonstrieren gegen die langjährigen Machthaber. Die „samtene Revolution“, wie sie bald genannt wurde, war erfolgreich. Der frühere Journalist und Dissident Nikol Pashinyan, der die Protestbewegung angeführt hatte, wurde im Mai vom Parlament zum neuen Ministerpräsidenten gewählt, obschon seine Partei keine Mehrheit hat.

Es war eine städtische Revolution. Sie spielte sich in Jerewan ab, geprägt von jungen Menschen, welche die Sowjetzeit nur noch vom Hörensagen kennen und weniger autoritätsgläubig sind als die älteren Generationen. Wer Jerewan in diesen Tagen besucht, spürt die Aufbruchstimmung. Das Leben pulsiert in der Metropole, die mit ihren vielen Strassencafés und Jazzkellern ein kosmopolitisches Flair verströmt.

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Eingangsbereich des Smart-Centers in Lori

Wer Jerewan verlässt, ist jedoch rasch in einer ganz anderen Welt. Wir fahren ganz in den Norden Armeniens, in die Provinz Lori. Sie wurde 1988 von einem schweren Erdbeben hart getroffen, dessen Narben bis heute nicht verheilt sind. Lori ist eine der ärmsten Gegenden des Landes und die Fahrt von Jerewan hierher ist wie eine kleine Zeitreise. Knapp die Hälfte der Bevölkerung lebt in Lori heute noch von der Landwirtschaft. Die Gegend leidet an Landflucht. Viele junge Menschen sehen in Lori keine Zukunft für sich selber. Sie ziehen weg nach Jerewan, aber vor allem ins Ausland, nach Russland oder Georgien.

Aber es tut sich etwas. Krist Marukyan ist jedenfalls davon überzeugt, dass auch in Lori Aufbruchstimmung herrsche. Er arbeitet für den Children of Armenia Fund (COAF), eine von Exil-Armeniern gegründete Hilfsorganisation, die in den ländlichen Gebieten Armeniens tätig ist. Krist Marukyan sagt stolz: „Bei uns spielt sich ebenfalls eine Revolution ab.“ Damit meint er ein futuristisch anmutendes Gebäude, das der libanesische Architekt Paul Kaloustian entworfen hat und diesen Sommer eröffnet wurde. Es wirkt wie ein unförmiges Raumschiff, das mitten im Grünen, in dieser menschenarmen Gegend gelandet ist. 5,5 Millionen Dollar hat sich die Hilfsorganisation das Gebäude kosten lassen. Prominente Gönner wie Schauspieler Leonardo DiCaprio oder Künstler Jeff Koons haben sich an der Finanzierung beteiligt.

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Kaffee-Ecke im Smart-Center

Das Gebäude ist das erste sogenannte „Smart Center“ der Hilfsorganisation. Krist Marukyan leitet das Zentrum. Von hier aus wollen er und seine Mitstreiter die Bevölkerung der Umgebung erreichen, insgesamt 150’000 Menschen. Diese sollen die Möglichkeit haben sich weiterzubilden. Das Angebot ist riesig. Die Einheimischen können Englisch büffeln, Programmieren lernen (der IT-Sektor boomt in Armenien) oder werden mit den neuesten landwirtschaftlichen Anbautechniken vertraut gemacht. Das Zentrum will jedoch auch die Gesundheitsversorgung in der abgelegenen Gegend verbessern mit regelmässigen Sprechstunden für die Bevölkerung. Hinzu kommen Freizeitangebote wie Musik-, Tanz- oder Theaterkurse. „Unser Ziel ist es, den Menschen in der Umgebung einen Grund zu geben, hier zu bleiben und nicht in die Städte abzuwandern“, sagt Krist Marukyan.

Wie das funktionieren könnte, zeigt das Beispiel von Sargis Davoyan, einem 15-jährigen Teenager aus einer kleinen Ortschaft in der Provinz Lori. Dort lebt er mit seiner Mutter. Sein Vater und sein Bruder sind nach Russland ausgewandert. „Dass ein Teil der Familie weggeht, ist völlig normal, weil es bei uns viel zu wenig Jobs gibt“, sagt Sargis. Er besucht nun im „Smart Center“ einen zweijährigen Englisch-Kurs, der ihm gratis angeboten wird. Er hofft, mit dieser Grundlage eines Tages studieren und letztlich in Armenien bleiben zu können.

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Bibliothek

Interessant ist das Konzept des „Smart Centers“. Ihm angeschlossen sind weitere „Smart Rooms“ in der Umgebung. Diese sind wesentlich kleiner, haben aber ebenfalls eine Infrastruktur für Sprach- und Computerkurse. Von dort aus kann man zudem per Video-Konferenzschaltung an Kursen teilnehmen, die im grossen Zentrum stattfinden. Die „Smart Rooms“ haben aber noch eine andere Funktion. Sieben von ihnen befinden sich an der Grenze zu Aserbaidschan. Dort ist die politische Lage angespannt. Wegen Grenzstreitigkeiten zwischen Armenien und Aserbaidschan kommt es bisweilen zu Schusswechseln. Die „Smart Rooms“ dienen der lokalen Bevölkerung als Schutzräume. Sie können im Notfall bis zu 150 Leute zwei Tage lang beherbergen.

Die Hilfsorganisation COAF ist ein gutes Beispiel dafür, dass man in Armenien stark auf die Hilfe der grossen Diaspora im Ausland setzt. Drei Millionen Menschen leben in Armenien – doppelt so viele Armenier im Ausland. Viele der Exil-Armenier wollen mithelfen, dass die Kaukasus-Nation vorwärts macht. Hinter COAF steht Garo Armen, ein amerikanischer Unternehmer mit armenischen Wurzeln. Er gründete die Hilfsorgansiation vor 15 Jahren, weil er bei einem Besuch in Armenien schockiert feststellte, dass auf dem Land viele Kinder nicht zur Schule gingen, kaum Zugang zu sauberem Wasser hatten und ihre medizinische Versorgung prekär war. Um die Landflucht zu stoppen oder einzudämmen, bräuchten die jungen Leute eine Perspektive, war er überzeugt.

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Im Gespräch mit Innesa Grigoryan

„Unsere Hilfsorgansation begann sehr klein – in einem einzigen Dorf“, sagt Innesa Grigoryan, stellvertretende Direktorin von COAF. Sie selber arbeitet seit der Gründung der Organisation an vorderster Front mit. Sie erzählt: Man habe damals das Dorf Karakert in der Provinz Armavir zur Modell-Gemeinde erklärt. COAF habe das Schulhaus renoviert, Wasserleitungen und einen öffentlichen Park gebaut,  Freizeitaktivitäten für Kinder organisiert, Kerosin-Öfen in den Wohnhäusern durch weniger gefährliche Heizungen ersetzt und medizinische Untersuchen für Frauen eingeführt. „Das Geld für unsere Arbeit sammeln wir in den USA“, sagt Innesa Grigoryan. Jedes Jahr im Dezember findet ein grosser Fundraising-Anlass in New York statt, seit 2004 konnten auf diese Weise rund 40 Millionen Dollar zusammengetragen werden. Aus dem einen Modelldorf sind mittlerweile 44 Gemeinden geworden, die von COAF unterstützt werden. „Bei jedem Dorf gehen wir gleich vor: Wir fragen zuerst die Bevölkerung, was sie braucht, und versuchen dann, gemeinsam mit den Bewohnern die gewünschten Verbesserungen zu erzielen.“

Nach dem gleichen Prinzip will COAF auch bei den „Smart Centers“ vorgehen. Jenes in Lori soll erst der Anfang sein, bald schon soll es viele solche Zentren geben. Die Ziele sind ambitioniert. „Wir wollen mit unseren Programmen irgendwann rund die Hälfte der armenischen Bevölkerung erreichen“, sagt Innesa Grigoryan. Möglichst viele junge Armenierinnen und Armenier sollen Zugang zu Weiterbildung haben und von einer guten Gesundheitsversorgung profitieren. Denn beides ist keine Selbstverständlichkeit in einem Land, von dem die Weltbank schätzt, dass mehr als 40 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze von 5.50 Dollar pro Tag lebt – und das in den letzten zehn Jahren rund zehn Prozent der Menschen verloren hat, weil diese mangels Perspektiven ins Ausland abgewandert sind.

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Computer-Arbeitsplätze mit Aussicht

Krist Murkyan, der Leiter des „Smart Centers“ in Lori findet, dass sich der Einsatz von COAF bereits gelohnt hat. Er ist überzeugt: COAF habe auch einen kleinen Beitrag zur „samtenen Revolution“ geleistet. Früher seien die Menschen auf dem Land schlechter gebildet gewesen als heute „und haben den politischen Führern einfach alles geglaubt“. Dank Programmen wie jenem von COAF, das sich an die Landbevölkerung richtet, sei das heute anders. Und deshalb würden korrupte Politiker heutzutage hinterfragt – und bisweilen auch gestürzt.

Fotos: Andreas Beglinger

Durchs wilde Kirgistan

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Unendliche Weiten, viel Natur – das ist Kirgistan

Es ist schon dunkel, als wir in Bishkek landen, der Hauptstadt Kirgistans. Nachdem wir Usbekistan und Turkmenistan vor allem wegen der Kultur und Architektur besucht haben, zieht uns hier etwas anderes an. 94 Prozent der Landesfläche sind Gebirge. Die Natur ist die grosse Attraktion. Dies macht das Land zum Ziel von Trekking-Touristen. Wir sind überrascht, wie unbürokratisch die Einreise erfolgt. Wir wussten zwar, dass wir kein Visum benötigen. Dass die Zollformalitäten jedoch gleich schnell erledigt sind wie in einem EU-Land, ist dann doch verblüffend.

Wir werden am Flughafen erwartet von Myrzabek. Er ist der Leiter von CBT Kirgistan. CBT – das bedeutet: Community Based Tourism. Die Organisation gibt es seit knapp 20 Jahren und sie hat Pionierarbeit geleistet in Kirgistan. In einem Land, in dem es ausserhalb der Hauptstadt keine klassische touristische Infrastruktur wie Hotels oder Öffentlichen Verkehr gibt, hat CBT das Reisen möglich gemacht. Von Anfang an ging es nicht nur darum, ausländische Gäste anzuziehen, sondern auch der lokalen Bevölkerung zu helfen. Sie soll direkt vom Tourismus profitieren. Das Hauptziel sei, „die Lebensbedingungen der Menschen in abgelegenen Gebieten zu verbessern, ohne dass die Natur unter dem Tourismus leidet“, erzählt uns Myrzabek. Die Organisation vernetze lokale Bauernfamilien und ermögliche es ihnen, Gäste zu beherbergen oder ihnen Trekkings anzubieten. 

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Unterwegs in Kirgistan

Wir finden es schön, dass sich der Chef von CBT Kirgistan einen Abend lang Zeit nimmt, uns zu erklären, wie seine Organisation funktioniert. Er lädt uns ein in ein traditionelles kirgisisches Restaurant: Das Chaikhana Navat ist ein reich mit farbigen Wandteppichen dekoriertes Lokal, das an diesem Abend bis auf den letzten Platz gefüllt ist. Es spielt eine Folklore-Band, es ist aber nicht – wie an so vielen anderen Orten – organisierter Kitsch für Touristen. Wir sind die einzigen Fremden hier. Die Folklore ist authentisch. So authentisch wie das Essen, das in grossen Portionen serviert wird.

Myrzabek freut sich darüber, dass wir aus der Schweiz kommen. Der Grund: CBT Kirgistan wurde mit viel Hilfe aus der Schweiz gegründet. Die Entwicklungshilfe-Organisation Helvetas initiierte im Jahr 2000 das Tourismus-Projekt. Sie bildete in Kirigstan Einheimische aus. Diese sollten mit dem erworbenen Wissen CBT Kirgistan aufbauen, so dass die Organisation irgendwann auf eigenen Füssen stehen kann. Dies ist gelungen: Mittlerweile ist CBT Kirgistan nicht mehr auf finanzielle Unterstützung aus der Schweiz angewiesen. Myrzabek erzählt aber, dass er selber immer wieder zur Weiterbildung in die Schweiz reise. Und er sagt, dass im Winter jeweils Schweizer Skilehrer nach Kirgistan kommen, um den Schneesport zu fördern. Dieses Projekt sei auf fünf Jahre angelegt. Die Idee sei, dass junge Kirgisen im Winter, wenn die Trekking-Touristen weg sind, als Skilehrer arbeiten könnten und damit ein Einkommen hätten.  Tatsächlich hat der Wintersport in Kirgistan Potenzial. In Karakol gibt es eine Skistation, die Gegend ist schneesicher und es gibt zahlungskräftige Kundschaft aus Russland und Kasachstan.

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Eine typische Nebenstrasse in einem typischen kirgisischen Städtchen

Nach dem spannenden Gespräch fahren wir in unser Hotel, wo wir ein hübsches Zimmer beziehen. Am nächsten Tag startet unser Kirgistan-Abenteuer. Mit Ivan. Er begrüsst uns vor dem Hotel. Ivan ist Mitte 50, kam zu Sowjetzeiten mit seinen Eltern aus Russland nach Kirgistan. Später diente in der Sowjet-Armee, trauert dieser Zeit immer noch nach und arbeitet heute als Fahrer für Touristen. Uns begleitet er die kommenden acht Tage durch Kirgistan. Ivan ist ein Glücksfall, wie wir unterwegs noch feststellen werden. Zwar können wir uns nur bruchstückhaft unterhalten, da Ivan kaum Englisch spricht und wir kein Russisch. Wenn er uns aber mal dringend etwas mitteilen möchte, spricht er einen Satz auf Russisch in sein Handy, das ihm dann die Übersetzung liefert. So verständigen wir uns prima.

Von Bischkek sehen wir kaum etwas. Bei der Fahrt durch die Stadt fällt uns lediglich auf, dass – anders als im Polizeistaat Usbekistan – für einmal nicht an jeder Ecke ein Beamter steht. Später merken wir, dass die Polizisten hier ihre Zeit offenbar lieber damit verbringen, an Landstrassen zu stehen und Geschwindigkeitsbussen auszusprechen. Unser Fahrer Ivan gibt uns zu verstehen, dass diese Geschwindigkeitsbussen willkürlich seien. Man könnte sie auch als Schmiergeld bezeichnen.

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Burana-Turm

Es geht ostwärts. Unser erstes Ziel ist der Burana-Turm. Es gibt in Kirgistan nicht allzu viele historische Bauwerke zu bestaunen. Der Burana-Turm ist eine Ausnahme. Es handelt sich um ein Minarett, das als einziges Bauwerk noch übrig geblieben ist von einer Stadt aus dem 9. Jahrhundert. Der Turm war einst 45 Meter hoch, heute sind es noch 25 Meter. Es ist derzeit leider nicht möglich, ihn zu besteigen – aber der Besuch lohnt sich trotzdem. Viel Zeit können wir aber nicht hier verbringen, da wir an diesem Tag noch vieles vorhaben.

Unser Ziel ist Song-Kul, der zweitgrösste See Kirgistans, der auf 3000 Meter über Meer liegt. Es ist Anfang Juni und nach einem schneereichen Winter ist der See zu dieser Zeit nur schwer erreichbar. Zunächst fahren wir nach Kochkor, eine unscheinbare Ortschaft mit knapp 10’000 Einwohnern. Dort ist das lokale Büro von Community Based Tourism. CBT ist nämlich dezentral organisiert. Verschiedene lokale Büros stellten für die Touristen vor Ort den Kontakt her zur Bevölkerung, die touristische Angebote hat.

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Kerimbek führt uns durch die unendlichen Weiten

Wir treffen Kerimbek. Der junge Mann spricht passabel Englisch. Er arbeitet während der wärmeren Monate als Reiseführer, in der restlichen Zeit verdient er sein Geld als Viehhändler. Zusammen mit ihm fahren wir aufs Land. Wir haben vor, den Song-Kul-See hoch zu Ross zu erreichen. Die Pferde mieten wir bei einer Bauernfamilie. Der Familienvater, sein Name ist Ruslan, begleitet uns zusammen mit Kerimbek auf unserem Trip. Ruslan ist dabei verantwortlich für die Pferde. Unseren Fahrer, Ivan, lassen wir zurück. Er versucht, den See mit seinem Auto zu erreichen. Wir wollen ihn am nächsten Tag dort treffen.

Wir sind keine erfahrenen Reiter. Kein Problem, signalisieren unsere zwei kirgisischen Begleiter. Die meisten Touristen, die hierher kämen, hätten noch nie auf einem Pferd gesessen. Die Tiere scheinen denn auch unerfahrene Reiter gewohnt. Jedenfalls lassen sie sich von uns geduldig führen. Meistens jedenfalls. Wenn ein Pferd dann doch einmal bockt, spricht Ruslan ein Machtwort, dann spurt es wieder. Als wir am Ende des ersten Tages, nach einem fünfstündigen Ritt, feststellen, dass unsere Pferde mittlerweile ziemlich langsam unterwegs sind, äussern wir die Vermutung: „Die Tiere sind wohl müde.“ Daraufhin sagt Kerimbek jedoch bestimmt: „Das Problem ist nicht, dass die Pferde müde sind. Das Problem ist, dass ihr keine guten Reiter seid.“ Wir müssen Lachen über so viel Ehrlichkeit.

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Eine Hirtenfamilie beherbergt uns in ihrer Jurte

Für unsere ungeübten Hinterteile ist der lange Ritt strapaziös. Aber wir werden entschädigt durch wunderschöne Landschaften, wie sie auch der kirgisische Schriftsteller Tschingis Aitmatow in seinen weltberühmten Erzählungen beschrieben hat. Hinter jeder grasbewachsenen Kuppe wartet ein bezaubernder Anblick auf uns. Weite, grüne Täler, sanfte Hügel zu allen Seiten. Wir sehen Wiesen, die mit Edelweiss übersät sind. Menschenleer ist es, dafür begegnen uns Hunderte von Schafen. Landschaftlich erinnert uns das alles sehr an die Schweiz, etwa ans Sertigtal in Davos. Bloss eben mit dem Unterschied, dass die Schweiz wesentlich dichter besiedelt ist. Kirgistan ist fünfmal grösser als die Schweiz, hat aber drei Millionen weniger Einwohner. Die Einsamkeit, die wir hier antreffen, findet man bei uns zuhause kaum.

Am Nachmittag wird es kühl. Kerimbek und Ruslan, unsere Führer, ziehen ihre Windjacken an. Wir stellen überrascht fest, dass uns diese Jacken bekannt vorkommen. Auf ihrem Rücken prangt gross der Schriftzug „Arosa“. Es sind Jacken, die ihnen Schweizer Skilehrer geschenkt haben, die im vergangenen Winter im Rahmen des oben erwähnten Projekts in Kirgistan waren. Kerimbek und Ruslan tragen die Ski-Jacken mit sichtlichem Stolz.

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Die Kinder der Hirtenfamilie

Um den See zu erreichen, müssen wir den Jalgyz-Karagai-Pass auf 3400 Metern überqueren. Zunächst übernachten wir jedoch am Fuss dieses Übergangs. Eine Nomadenfamilie verbringt hier den Sommer und hat ihre Jurten aufgestellt. Wir übernachten bei der Familie. Für uns ein schönes und intimes Erlebnis. Wir erhalten Einblick in das Leben von Nomaden, die sich mit den organisierten Trekkings und der Verpflegung von Touristen einen wichtigen Zusatzverdienst erarbeiten. Das Geld dient den Nomaden dazu, ihre traditionelle Lebenswese aufrechterhalten zu können.

Obwohl wir kein Wort mit ihnen wechseln können, freunden wir uns rasch mit den Kindern an und spielen mit ihnen. Wir sehen auch, wie hart die Frauen arbeiten. Sie kümmern sich um den Haushalt und um die Gäste. Die Mutter kocht uns ein üppiges Mahl, eine nahrhafte Suppe mit Hammelfleisch und Kartoffeln, die Tochter serviert das Essen. Den Familienvater bekommen wir kaum zu Gesicht, er ist draussen bei den Tieren, den Schafen und den Pferden. Allgemein gilt bei kirgisischen Nomaden, dass die Frauen die Hauptlast der Arbeit tragen. Als es eindunkelt, breiten wir unsere Schlafsäcke in der Jurte aus, in der wir soeben gegessen haben. Zum Entsetzen unserer Gastgeber. Mit Handzeichen geben uns zu verstehen, dass sie für uns eine eigene Jurte reserviert haben. Als wir sie betreten, sind wir verblüfft. Mit gestapelten Matrazen und Decken haben uns unsere Gastgeber richtige Betten eingerichtet. Damit haben wir wirklich nicht gerechnet, aber so lässt sich natürlich wunderbar schlafen.

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Ausblick von der Passhöhe

Am nächsten Morgen steigen wir wieder auf unsere Pferde und nehmen den Passübergang in Angriff. Ein steiler Kiesweg führt uns dorthin, den Tieren ist die Anstrengung anzumerken. Kurz vor dem Pass türmt sich plötzlich meterhoher Schnee auf dem Weg auf. Die Überreste des harten Winters. Unsere Führer finden jedoch einen Weg um den Schnee herum, der aber so schwierig zu begehen ist, dass wir von den Pferden steigen müssen. Aber wir erreichen schliesslich die Höhe. Stolz sagen unsere Begleiter, wir seien die ersten Touristen, die dieses Jahr den Pass überqueren. Wobei bloss zehn Minuten später eine weitere kleine Reisegruppe den Pass erreicht.

Der Ausblick ist toll. In der Ferne erkennen wir den Song-Kul-See. Nach weiteren zwei Stunden erreichen wir das Ufer, wo wir unser Mittagessen erhalten. Wir reiten dem Seeufer entlang und nähern wir uns gegen Abend unserem Tagesziel. Es ist ein kleines Jurten-Dorf. Im Gegensatz zum Tag zuvor dienen diese Jurten hier nicht dazu, Nomaden-Familien unterzubringen, sie sind auf Touristen ausgerichtet. Als wir ankommen, sind wir jedoch die einzigen Gäste und erfahren, dass die Jurten eben erst aufgebaut worden sind. Sie stehen nur während der warmen Monate, werden also im Juni aufgerichtet und später im September wieder abgebaut.

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Wir reiten dem Song-Kul entlang

Wir freuen uns bereits auf einen einsamen Abend an diesem atemberaubend schönen Ort. Der Blick auf den grossen Bergsee ist umwerfend, in der Umgebung grasen friedlich einige Pferde. Doch wir haben uns zu früh gefreut. Plötzlich tauchen zwei Touristen-Busse auf.

Da mittlerweile auch die Strassen zum Song-Kul-See passierbar sind, haben die Busse es hierher geschafft. Knapp zwanzig weitere Reisende übernachten heute hier. Wir trauern ein wenig der Einsamkeit nach, geniessen den Abend aber trotzdem. Zumal nun auch Ivan, unser Fahrer, auftaucht. Er zeigt uns auf seinem Handy einen Film von seiner Passüberquerung. Zeigt uns, wie sich sein Auto durch den Schnee gekämpft hat. Was uns aber am meisten freut: Ivan hat unterwegs Fische gefangen, die wir zum Abendessen geniessen. Eine willkommene Abwechslung zum vielen Hammelfleisch, das wir normalerweise vorgesetzt bekommen.

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Unsere Jurten am Song-Kul

Tags darauf tauschen wir den Pferderücken wieder mit der Rückbank in Ivans Auto, was wesentlich komfortabler ist. Vom Song-Kul-See geht es über einen Pass und dann in 32 Serpentinen hinunter ins Tal. Unser Ziel ist Tashrabat, eine alte Karawanserei. Dorthin zu gelangen, war vor einigen Jahren noch beschwerlich, die Wege waren äusserst schlecht ausgebaut. Mittlerweile sind die Strassen wie Teppiche. Der Grund: Chinesen haben in dieser Gegend in die Infrastruktur investiert.

Eine hochmoderne Strasse führt von der kirgischen Hauptstadt Bischkek über den Torugart-Pass nach Kashgar in China. Kashgar ist eine 300’000-Einwohner-Stadt im muslimischen Teil des Riesenreichs. Die Route hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, seit China daran ist, in eine neue Seidenstrasse zu investieren. In einen Handelsweg entlang der Route der klassischen Seidenstrasse. Kashgar war nämlich immer schon ein Knotenpunkt der Seidenstrasse. Für Kirgistan ist die Strasse ein Gewinn. Sie ist jedoch unter wenig schönen Umständen entstanden. Die Bauarbeiter seien „vom Arbeitgeber wie Sklaven gehalten worden“, hat der Schweizer Journalist Peter Gysling festgehalten, der für eine Dokumentation des Schweizer Fernsehens die Gegend während des Strassenbaus besuchte.

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Über diese Serpentinen fahren wir vom Song-Kul hinunter ins Tal

An der historischen Seidenstrasse liegt eben auch Tashrabat, unser Ziel – etwa 40 Kilometer von der chinesischen Grenze entfernt. Die Karawanserei stammt aus dem 15. Jahrhundert. Karawansereien haben wir schon auf unserer Reise in den Iran gesehen. Dabei handelt es sich um Unterkünfte an Karawanenrouten. Reisende konnten in Karawansereien übernachten und ihre Tiere und Handelswaren unterbringen. Der Abstand zwischen einzelnen Unterkünften betrug rund 40 Kilometer, das entsprach dem Tagespensum einer Karawane.

Die Karawanserei in Tashrabat ist geschlossen, als wir ankommen. In einer kleinen Siedlung, die unweit der Karawanserei liegt, versuchen wir jemanden zu finden, der uns die Eingangstüre aufschliessen kann – und begegnen schliesslich einer Frau, die uns weiterhilft. Weil die Karawanserei in einen Hügel hineingebaut ist, sieht sie von aussen gar nicht so gross aus. Innen stellen wir aber fest, dass sie aus rund 30 Räumen besteht.

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Die Karawanserei von Tashrabat

Aber auch hier gilt: Die eigentliche Attraktion ist die Landschaft. Tashrabat liegt auf 3100 Metern über dem Meer. Rundherum steigen die Berge in die Höhe. Wir befinden uns in einem Ausläufer des Tianshan-Gebirges, das Unesco-Welterbe ist und sich über die zentralasiatischen Staaten Kirgistan, Kasachstan, Tadschikistan und Usbekistan sowie das muslimische Uiguren-Gebiet im Nordwesten Chinas erstreckt.

Wir übernachten unweit der Karawanserei in einer Jurten-Siedlung. Abends richten wir es uns in unserem Zelt gemütlich ein, unsere Gastwirte entfachen sogar ein wärmendes Feuer im Innern, derweil der Regen aufs Dach prasselt. Als wir frühmorgens aus dem Zelt kommen, stellen wir überrascht fest, dass über Nacht einige Zentimeter Neuschnee gefallen sind. Das Wetter ist in Kirgistan eben ziemlich unberechenbar.

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Am Morgen erwartet uns eine Winterlandschaft

Und es wechselt auch rasch. Wir lassen den Schnee hinter uns und fahren gegen Osten. Am späteren Nachmittag kommen wir, nun wieder bei sehr angenehmen Temperaturen, am Issyk-Kul an. Er ist der grösste See Kirgistans: gut 180 Kilometer lang und 60 Kilometer breit – zehnmal so gross wie der Bodensee, der zweitgrösste Bergsee der Welt hinter dem Titicaca-See.

Der Issyk-Kul gefriert selbst im Winter nicht, obschon die Lufttemperaturen bis auf -20 Grad fallen können. Zu Sowjetzeiten testete das Militär im See Torpedos. Unser Nachtlager befindet sich am Südufer des Issyk-Kul, in Bokonbaevo. Es handelt sich um ein sehr schön gelegenes Jurten-Camp.

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Jurten-Camp in Bokonbaevo

In Bokonbaevo treffen wir einen Adlerjäger. Wie viele Menschen heute noch diese Tradition pflegen, ist nicht bekannt. Man schätzt, dass nur noch wenige Nomaden in Kirgistan, Kasachstan und China mit dem Steinadler jagen. In Kirgistan soll es noch etwa zwanzig Adlerjäger geben. Sie richten die Adler so ab, dass sie mit ihnen auf die Jagd gehen können. Dabei entwenden sie die Tiere entweder als Jungvögel aus dem Nest oder sie nehmen sie in jungen Jahren gefangen. Bis zum Alter von etwa 15 Jahren bleiben die Vögel bei den Adlerjägern, danach kommen sie wieder in Freiheit. So soll die Population von freilebenden Adlern erhalten bleiben.

Das Wissen über die jahrhundertealte Jagdtechnik wird innerhalb der Familie von Generation zu Generation weitergegeben. Wir lernen Ruslan kennen und seinen Vater Kubatbek. Sie pflegen die Tradition heute noch. Auf die Jagd gehen sie nur im Winter, darum haben sie nun, im Frühling, Zeit für eine kleine Demonstration. Ruslan steht mit dem Adler, er heisst Karachin, auf einem Hügel, sein Vater setzt unten in der Ebene ein Kaninchen auf den Boden, dann fliegt der Adler los und packt das Kaninchen. Die Jäger locken schliesslich den Adler vom Kaninchen weg – mit ein wenig frischem Fleisch.

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Ruslan und sein Adler Karachin

Genau so funktioniert auch die richtige Jagd. Der Adler fangen vor allem Füchse, aber auch Wölfe. Sobald sie diese ergriffen habe, werden die Adler weggelockt, damit sie das wertvolle Fell der Beutetiere nicht zerstören. Wir dürfen nach der Demonstration den mächtigen Vogel kurz auf dem Arm halten. Eindrücklich, dieses wunderschöne Tier von Nahem zu sehen und sein Gewicht von mehr als 5 Kilos zu spüren.

Nach einem tollen Abend am Ufer des Issyk-Kul geht es für uns weiter – ostwärts dem See entlang. Wir kommen in Tamga vorbei. Das ist ein kleines Nest. In den 1960er-Jahren lebte hier aber einer der damals bekanntesten Menschen der Welt. Der sowjetische Raumfahrer Juri Gagarin, der erste Mensch im All, erholte sich in der kirgischen Provinz von seinem Weltraumabenteuer. Die ehemalige Militäranlage, wo er untergebracht war, ist bei russischen Touristen immer noch sehr beliebt, obschon es kaum mehr etwas zu sehen gibt. Einzig in einem nahegelegenen Tal gibt es noch eine Büste des Kosmonauten.

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Was für ein schönes Tier

Am späten Vormittag erreichen wir schliesslich Karakol, eine Stadt mit knapp 70’000 Einwohnern. Sie ist der Ausgangspunkt für zahlreiche Trekkings ins Tianshan-Gebirge. Genau deshalb sind auch wir in der Stadt. Wir haben eine Wanderung an den idyllischen Bergsee Ala-Kul geplant, der nur zu Fuss über eine mehrtätige Wanderung erreichbar ist. Um zu starten, fahren wir zunächst in ein Seitental. Vorbei an einem Sessellift. Karakol ist eine der bekanntesten Skistationen in Zentralasien. Bei einer Brücke treffen wir, wie verabredet, unsere Begleiter für die nächsten Tage. Einen Bergführer und zwei junge Burschen, die unsere Verpflegung und unser Zelt tragen. Da wir auf 4000 Meter aufsteigen, sind wir froh, dass wir nicht alles selber mitschleppen müssen. Unsere Rucksäcke sind schwer genug und die dünne Luft macht jede Bewegung anstrengend.

Wir wandern zunächst einem Fluss entlang durch das Karakol-Tal. Es ist beeindruckend, wie rasch wir die Zivilisation hinter uns lassen und einsam die Landschaft durchstreifen. Nach etwa vier Stunden erreichen wir die nächste Brücke, überqueren den Fluss, dann beginnt ein steiler Aufstieg durch bezaubernde Nadelwälder. Am Nachmittag haben wir unser Zwischenziel erreicht. Eine einfache Holzhütte, die gebaut wurde als Unterstand für Berggänger, die sich jedoch nicht dazu eignet, um darin unser Nachtlager aufzuschlagen. Sie ist ziemlich heruntergekommen, daher ist das Zelt die bessere Option. Unsere Begleiter kochen das Abendessen, dann beginnt es, heftig zu regnen. Wir verkriechen uns in unsere Zelte. Eingehüllt in warme Kleider, weil die Temperaturen nur noch knapp über dem Nullpunkt sind.

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Unterwegs im Karakol-Tal

Am anderen Morgen sieht die Welt für uns leider unfreundlich aus. Wir haben Magenprobleme und wahrscheinlich Fieber, nicht zum ersten Mal auf unserer Reise. Wir wissen, dass der heutige Tag einen Aufstieg auf 4000 Meter beinhaltet. Wir wissen auch, dass in den höheren Lagen noch Schnee liegt und neuer Schnee über Nacht dazugekommen ist. Und dass uns die Tagesetappe auch ohne gesundheitliche Probleme und Neuschnee alles abverlangen würde. Daher sagt uns die Vernunft, dass wir die Wanderung abbrechen sollten. Das tun wir dann auch. Enorm frustrierend ist das zwar, weil der Ala-Kul-See einer der Höhepunkte unserer Zentralasien-Reise hätte werden sollen, aber es ist der richtige Entscheid. Schon nur der Abstieg zurück nach Karakal bringt uns an unsere körperlichen Grenzen.

An diesem Tag merken wir wieder einmal, welches Glückslos wir mit unserem Fahrer Ivan gezogen haben. Er hätte eigentlich einen freien Tag, da wir ja unterwegs sein sollten. Als wir ihn anrufen, organisiert er uns jedoch sogleich eine Unterkunft, steigt in sein Auto und holt uns ab. Das Guesthouse ist ein Volltreffer. Wir bekommen eine gute Mahlzeit serviert und legen uns ins Bett, um uns möglichst rasch zu erholen. Tatsächlich geht es uns tags darauf wieder einigermassen gut.

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Holzkirche von Karakol

Wir haben nun – unerwartet – einen ganzen Tag Zeit, Karakol zu erkundigen. Wir besuchen zunächst eine russisch-orthodoxe Holzkirche, die im 19. Jahrhundert gebaut wurde. Unter den Sowjets, die es nicht so mit der Religion hatten, diente sie als Tanzsaal, während des 2. Weltkriegs auch als Schule. Heute wird sie wieder für Gottesdienste benutzt. Ebenfalls komplett aus Holz und ohne einen einzigen Nagel gebaut ist die Dungan-Moschee. Sie wurde von chinesischen Muslimen errichtet, den Dunganen, die Ende des 19. Jahrhunderts in ihrer Heimat verfolgt wurden und nach Zentralasien flüchteten. In Karakol leben die Dunganen heute als kleine Minderheit. Die chinesischen Wurzeln sieht man der Moschee an, da sich beim Bauwerk auch Motive aus dem Buddhismus finden.

Weil Gotteshäuser zu besuchen hungrig macht, gehen wir ins Fat Cat. Dabei handelt es sich um ein Café mit einer bemerkenswerten Besitzerin. Zhamilia heisst sie und nimmt an unserem Tisch Platz, um sich vorzustellen. Die junge Frau absolvierte in Deutschland ihr Master-Studium. Ihr gefiel es dort, vor allem beeindruckte sie, „dass die Menschen in Deutschland soziale Verantwortung übernehmen, zueinander schauen“, wie sie erzählt. In Europa zu bleiben, war für sie jedoch keine Option. Sie wollte lieber in ihrer Heimat selber soziale Verantwortung übernehmen. Im August 2016 gründete Zhamilia ihr Café. Das Konzept: Sie bietet Speis und Trank an, der in Kirgistan normalerweise nicht serviert wird: guten Kaffee, Cheesecakes und Toasts.

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Riesenrad in Karakol

Mit dem Erlös des Cafés und mit Hilfe von Spenden hilft Zhamilia unter anderem Kindern aus der Umgebung, damit diese zur Schule gehen können. Sie erzählt uns von einer Nomaden-Familie mit vier Kindern. Bislang war es in dieser Familie so: Zwei Kinder gingen vormittags zur Schule, zwei Kinder nachmittags. Die Familie konnte es sich nicht leisten, alle vier Kinder ganztags zur Schule zu gehen. Der Grund: Es fehlte das Geld, um allen vier Kindern Schulmaterial zu kaufen. So mussten sich immer je zwei Kinder die Bleistifte und Schulhefte teilen. „Bei dieser Familie konnten mir mit wenig Mitteln viel erreichen: Wir haben ihr Schulmaterial zur Verfügung gestellt und seither gehen alle vier Kinder ganztags zur Schule.“ Eine weitere Herzensangelegenheit ist Zhamilia die Stärkung von Frauen, die häusliche Gewalt erlebt haben. Ihnen bringt sie das Backen bei, damit sie bei ihr arbeiten können und Selbstvertrauen zurückgewinnen.

Wir verabschieden uns schliesslich von der Frau, die uns mit ihrem Tatendrang beeindruckt, und schliessen den Tag ab mit einem Besuch des Vergnügungsparks. Uns ist schon in anderen Städten Zentralasiens aufgefallen, dass ein Park mit einem Riesenrad und meistens auch irgendwelchen Militärdenkmälern zum Standard gehört. Diese Rummelplätze stammen allesamt noch aus der Sowjetzeit. Das Riesenrad ist rund 40 Jahre alt. Wir gönnen uns eine Fahrt und stellen glücklicherweise erst beim Aussteigen fest, dass die Stahlseile, mit denen das Riesenrad angetrieben wird, ziemlich lädiert aussehen.

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Unterwegs nach Kasachstan begegnet uns eine Schafherde

Am kommenden Tag packen wir unsere Siebensachen. Unsere Kirgistan-Reise ist zu Ende. Unser Fahrer Ivan soll uns nach Kasachstan bringen, in die ehemalige Hauptstadt Almaty. Wir überqueren die Grenze im Nordosten Kirgistans, beim Übergang Kegen. Wir sind dort wieder einmal – so wie schon an anderen Grenzübergängen – die einzigen Touristen weit und breit. Unser russisch sprechender Fahrer ist Gold wert, er kann uns bei den Grenzformalitäten helfen. Der Grenzübertritt dauert rund eine Stunde. Wir müssen das ganze Auto ausräumen und jedes Gepäckstück durch einen Scanner schicken. Die kasachischen Grenzbeamten sind jedoch nett und versuchen, sich mit uns zu unterhalten. Irgendwann finden sie heraus, dass wir aus Basel kommen. Das Gesicht des einen Grenzbeamten hellt sich auf, er sagt: „Basel? Champions League!“. Was uns zeigt, was für ein wunderbarer Werbeträger der FC Basel für unsere Heimatstadt ist. So kennt man sie sogar in der kasachischen Provinz.

Auf dem Weg nach Almaty besuchen wir schliesslich noch den Charyn-Canyon. Er wurde durch den Charyn-Fluss in die Landschaft geschnitten. Die Gesteinsschichten sind bis zu 12 Millionen Jahre alt. Der Canyon erreicht an gewissen Stellen eine Tiefe von bis 300 Metern. Aufgrund der Felsformationen und dem roten Gestein erinnert die Szenerie ein wenig an den Grand-Canyon – ohne dessen Grösse zu erreichen.

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Charyn-Canyon

In Almaty endet unsere Zentralasien-Reise schliesslich, die uns über Turkmenistan, Usbekistan, mit einem Zwischenhalt in der kasachischen Hauptstadt Astana, durch Kirgistan geführt hat. Almaty, unsere letzte Station, ist eine überraschend hübsche Stadt. Umgeben von Bergen mit europäischem Flair. Wir fahren auf den Hausberg, den Kok-Tobe, geniessen den Ausblick auf die Stadt und schwelgen in den Erinnerungen an die vergangenen drei Wochen.

Fotos: Andreas Beglinger

Retortenstadt und Spielplatz für Architekten

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Im Zentrum des Bildes und im Zentrum der Stadt: der Präsidentenpalast

An Nursultan Nasarbajew, dem ersten und immer noch amtierenden Präsidenten von Kasachstan scheiden sich die Geister. Die einen sehen in ihm einen weiteren autokratischen und korrupten Staatschef, der sich an den Bodenschätzen seines Landes bereichert, andere hingegen loben ihn als Vater des kasachischen Wirtschaftswunders, dem es gelungen ist, sein Land wirtschaftlich sowohl nach Osten als auch Westen zu öffnen und auf der internationalen Bühne zu platzieren.

Ausdruck dieses wirtschaftlichen Aufschwungs ist die neue Hauptstadt Astana. Auf Beschluss von Nasarbajew wurde 1997 der Regierungssitz von Almaty, im Süden des Landes, in die Mitte der kasachischen Steppe verlegt. Also von einem pulsierenden, charmanten Ort ins Niemandsland, wo die Temperaturen zwischen minus 40 Grad im Winter und plus 40 Grad im Sommer schwanken. Finanziert durch Milliarden aus den Öl- und Erdgasgeschäften ist hier aus der ehemaligen Provinzstadt während des postsowjetischen Turbokapitalismus innert zwei Jahrzehnten ein Spielplatz für Architekten entstanden.

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Astana besticht durch spektakuläre Architektur (rechts die Zentrale Konzerthalle)

Für uns Grund genug, nach unserem Usbekistan-Besuch und vor der Weiterreise nach Kirgistan einen kurzen Stopp einzulegen. Unser Flugzeug landet nachts um drei Uhr. Anders als zuhause gibt es hier kein Nachtflugverbot. Der Flughafen ist rund um die Uhr in Betrieb. Die Einreise ist deutlich weniger kompliziert als bei unseren vorherigen Destinationen in Zentralasien. Dort regierte die Bürokratie. In Kasachstan dagegen können Schweizer visumsfrei einreisen. Dem Zöllner am Flughafen ist dies zwar nicht bekannt. Zunächst fragt er mich, ob mein Pass echt sei. Als ich dies bejahe, will er mein Visum sehen. Ich erkläre ihm, dass ich keines benötige – und rechne schon damit, dass nun längere Diskussionen folgen könnten. Der Zöllner schaut mich aber bloss kurz an und sagt dann achselzuckend: „Also gut, willkommen in Kasachstan.“

Nicht nur die unkomplizierte Einreise zeigt uns, dass Astana – untypisch für Zentralasien – auf ein internationales Publikum ausgerichtet ist. Um vom Flughafen ins Zentrum zu gelangen, können wir hier bequem via Uber ein Auto bestellen. Der Weg in die Stadt ist einfach: Wir fahren auf einer schnurgraden Strasse, vorbei am Gelände der Weltausstellung, die kurz nach unserem Besuch in Astana stattfindet. International sind leider auch die Preise der vielen modernen Hotels. Wegen der bevorstehenden Expo sind die Zimmer knapp und wir müssen etwas tiefer als erhofft in die Tasche greifen, um hier übernachten zu können.

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Khan Shatyr

Am kommenden Tag besichtigen wir die Stadt. Wir beginnen beim Khan Shatyr. Dabei handelt es sich um ein grosses Gebäude in der Gestalt eines transparentes Zeltes. Der britische Stararchitekt Norman Foster, bekannt für das Swiss-Re-Gebäude (The Gherkin) in London, hat dieses Zelt entworfen. Die Eröffnungsfeier des Khan Shatyr wurde 2010 anlässlich des 70. Geburtstages des kasachischen Präsidenten begangen, zahlreiche Staatschefs anderer Länder reisten eigens dafür nach Astana. Die Feier allein kostete 10 Millionen Dollar, das Gebäude 260 Millionen Dollar.

Das Zelt dient als Shopping Center, es gibt aber auch ein Kino und unter dem Dach befindet sich ein Aquapark. Wir steuern den Starbucks an, weil wir nach zwei Wochen in Zentralasien Lust auf einen passablen Kaffee haben. Derzeit liegt der Khan Shatyr noch am Stadtrand Astanas. Geplant ist jedoch, dass er sich irgendwann im Zentrum befindet, dass also die Stadt um ihn herum noch mächtig wächst. Wenn man sieht, wie Astana in den vergangenen Jahren geboomt hat, ist das zweifellos ein realistisches Szenario. Heute hat die Stadt knapp 900’000 Einwohner, bis 2030 sollen es 1,4 Millionen sein.

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Grosse Parks, wuchtige Architektur.

Das Gebäude ist typisch für Astana. Hier gibt es atemberaubende Architektur, wohin das Auge reicht. Fast alle grossen Gebäude wurden erst nach 1998 gebaut, als Astana zur Hauptstadt wurde. Finanziert ist die Architektur vom Reichtum Kasachstans an Bodenschätzen, an Öl und Erdgas. Astana soll, so der Wille der Staatsführung, zur Vorzeigestadt werden, der man den wirtschaftlichen Aufstieg des Landes ansieht. Der Brite Norman Foster konnte sich nicht nur beim Khan Shatyr verwirklichen. Er baute am anderen Ende der Stadt auch den Palast des Friedens und der Eintracht – eine 77 Meter hohe Pyramide, die auf einem kleinen Hügel steht und die verschiedenen Religionen der Welt symbolisieren soll.

Das Wahrzeichen Astanas ist jedoch der Bajterek-Turm. Er ist 105 Meter gross und wurde vom kasachischen Architekten Akmurza Rustembekov entworfen. Er symbolisiert einen Lebensbaum. Einer Sage nach legte der legendäre Vogel Samruk ein Ei in die Baumkrone. Das Gebäude sieht denn auch aus wie ein Baum mit einem Ei an der Spitze. Die Einheimischen, die den Turm besuchen, lassen sich in die gläserne Kuppel des Turms hinauffahren, um dort ihre Hand in den vergoldeten Relief-Abdruck der Hand von Präsident Nasarbajew zu legen. Das soll Glück bringen.

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Palast des Friedens und der Eintracht

Auch wenn die Architektur überwältigend ist und die Entwicklung der Stadt einem Respekt abverlangt, eines ist für uns unverständlich. Dass nicht auch gleichzeitig ein Netz des Öffentlichen Verkehrs gebaut wurde. Es gibt weder eine Metro, noch ein Tramnetz. Lediglich Stadtbusse verkehren. Die Stadt Astana setzt ausschliesslich auf benzinbetriebenen Autoverkehr. Das ist sonderbar für eine Stadt, die unmittelbar nach unserem Besuch die Weltausstellung beherbergt, deren Motto lautet: „Future Energy“. In Sachen Verkehr dünkt uns, dass Astana eher die Vergangenheit verköpert.

Uns fällt zudem auf, dass auch die funkelnden Gebäude nicht besonders nachhaltig gebaut sind. Der Khan Shatyr, das Einkaufszentrum von Norman Foster, wirkt von Nahem betrachtet schon erstaunlich heruntergekommen. Wobei das extreme Klima in Astana sicher seinen Teil dazu beiträgt.

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Bajterek-Turm

Bevor wir weiterreisen nach Kirgistan, wo wir zehn Tage lang vor allem in Jurten übernachten und uns von Hammelfleisch ernähren werden, gönnen wir uns noch ein westliches Abendessen. Wir gehen in ein Pub, in dem vornehmlich Expats essen. Viele Expats. Ein Zeichen dafür, wie sehr diese Stadt brummt und Leute aus aller Welt anzieht, die im oder mit dem Öl- und Gasstaat Geschäfte machen wollen.

Text: Patrick Künzle. Fotos: Andreas Beglinger.

Ein Fischerdorf in der Wüste und eine polierte Märchenstadt

Unsere Reise nach Usbekistan beginnt an einem Zaun. Wir reisen über Turkmenistan ein. Über einen Grenzübergang, den kaum jemand benutzt. An diesem Tag sehen wir jedenfalls sonst niemanden. Wir haben die turkmenische Grenzkontrolle passiert. Danach führt die Strasse einige hundert Meter über ein Niemandsland, bis wir eben an den erwähnten Grenzzaun kommen. Dort befindet sich zunächst niemand. Da es kurz nach 12 Uhr ist, vermuten wir, dass die usbekischen Grenzbeamten Mittagspause machen. Nach einiger Zeit nähert sich ein junger Mann in Uniform. Er schaut sich unsere Pässe an, öffnet das Tor des Zauns und schickt uns in ein grosses Zollgebäude. Dort ist zunächst auch wieder niemand. Wir warten etwa eine Viertelstunde, füllen schon mal die zwei Einreiseformulare aus, dann nähert sich ein mässig gelaunter Beamter.

Der Mann interessiert sich für unser Gepäck, unser Bargeld, unsere Notfall-Medikamente. Alles möchte er sich ansehen. Besonders intensiv begutachtet er aber eines unserer Smartphones. Er will den Code wissen, um es zu entsperren. Wir geben ihm das Verlangte. Offiziell kontrolliert er, ob wir das Zollgebäude fotografiert haben, das ist nämlich strengstens verboten. Was ihn aber viel mehr interessiert, sind private Fotos. Eines nach dem anderen sieht er sich an und fragt: Wer ist das? Und wo seid ihr hier unterwegs? In diesem Stil geht es zehn Minuten weiter. Wir werden den Verdacht nicht los, dass hier kaum je ein Tourist die Grenze überquert und der Zöllner die Gelegenheit auskosten möchte, Fotos aus einer für ihn exotischen Welt anzugucken. Wir lassen dieses merkwürdige Prozedere über uns ergehen, ohne zu protestieren. Schliesslich sind wir darauf angewiesen, dass er uns passieren lässt. Zurück nach Turkmenistan können wir nicht mehr, da unsere Visa abgelaufen sind.

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Unterwegs an den Aralsee.

Nach etwa einer Stunde verliert der Zöllner dann allmählich das Interesse an unserem Gepäck und unseren Mobiltelefonen, stempelt unsere Pässe und lässt uns passieren. Wir marschieren wieder ein paar Meter durch die brütende Hitze, bis wir zum nächsten Zaun kommen. Dort begrüsst uns der gleiche Beamte, der uns bereits den ersten Zaun öffnete. Selbstverständlich prüft auch er nochmals – wie bereits eine Stunde zuvor – unsere Pässe und schaut, ob die zwei Menschen, die vor ihm stehen, immer noch die gleichen sind wie auf den Passfotos.

Dann sind wir in Usbekistan. Mit 30 Millionen Einwohnern ist es das am dichtesten besiedelte Land Zentralasiens. Auf seinem Territorium befinden sich die berühmten, historischen Stätten der Seidenstrasse: Samarkand, Bukhara und Khiva. Wir fahren zunächst aber in die in der Nähe des Grenzübergangs gelegene Stadt Nukus. Hier leben gut 200’000 Menschen. Es ist die Hauptstadt von Karakalpakstan, einst eine der ärmsten Regionen der Sowjetunion, heute liegt die Provinz ganz im Westen Usbekistans. Nukus ist der Ausgangspunkt für Reisen an den Aralsee. Die Stadt selber ist unspektakulär. Sie besteht vor allem aus gesichtslosen Bauten aus der Sowjetzeit. Eine Perle aber hat Nukus zu bieten. Ein Kunstmuseum von Weltrang, das man hier in der Provinz wahrlich nicht vermuten würde.

Der russische Maler, Archäologe und Sammler Igor Sawitzki (1915 bis 1984) gründete das Museum und wählte dafür bewusst einen Fleck im Sowjetreich aus, der nicht zentral liegt. Er sammelte viele Arbeiten russischer Avantgardemaler, deren Kunst in der Sowjetunion geächtet war. Er brachte deren Werke in Sicherheit und in der usbekischen Provinz liess man ihn mehr oder weniger in Ruhe. Kamen Kontrolleure vom Staat vorbei, die sein Treiben beobachten wollten, dann hängte er halt einfach ein paar heikle Kunstwerke ab und ersetzte sie durch andere.

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Am Aralsee.

Tags darauf verfrachten wir unsere Rucksäcke in einen Geländewagen. Unser Ziel ist der Aralsee. Respektive das, was von ihm noch übrig geblieben ist. Der Aralsee war bis vor 50 Jahren das viertgrösste Binnengewässer der Welt. Er bedeckte eine Fläche von 67’000 Quadratkilometern – das ist ein Drittel grösser als die gesamte Schweiz. Heute ist nur noch eine Restfläche von zwei kleineren Seen übrig. Wir wollen uns erzählen lassen, was hier passiert ist und es uns anschauen. Ohne ortskundigen und routinierten Fahrer ist eine solche Fahrt an den Aralsee kaum möglich, daher haben wir bei Tazabay Uteuliev, einem lokalen Veranstalter, eine zweitägige Privattour gebucht.

Es ist ein anstrengender, aber lohnenswerter Ausflug. Ein Ausflug auch, der sehr nachdenklich macht. Die Fahrt bis zum Wasser dauert mehr als 400 Kilometer, weitgehend querfeldein ohne Strassen und führt unter anderem über das eindrückliche Ustjurt-Plateau, eine wüstenartige Hochebene. Gegen Abend erreichen wir den Aralsee. Der Salzgehalt im Wasser ist dermassen hoch, dass man sich zum Baden in ihn legen kann und dabei nicht untergeht. Allzu lange sollte man jedoch nicht drinnen bleiben, weil es im Wasser viele Schadstoffe gibt.

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Jurte am Aralsee.

Wir übernachten in einer Jurte, die auf einer Klippe oberhalb des Aralsees liegt. Sie wurde unlängst eröffnet und ist Ausdruck eines zart aufkeimenden Tourismus in dieser Gegend. Zum Ziel für die Massen wird der Aralsee jedoch ganz sicher nicht. Interessant ist der Ausflug für Menschen, die sich mit dem Schicksal des Sees auseinandersetzen wollen und sich selber ein Bild davon machen wollen, was die Menschen der Natur antun können. Denn, das was wir hier zu sehen bekommen, bezeichnete UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon bei einem Besuch im Frühling 2010 als eine der „schockierendsten Katastrophen unseres Planeten.“ Drastisch vor Augen geführt wird uns dies am zweiten Tag unseres Trips. Wir fahren durch eine riesige Wüste. Doch wir merken rasch: Das war gar nicht immer eine Wüste. Davon zeugen unzählige Muschelschalen, die am Boden liegen. Wir fahren auf dem früheren Seebett. Heute kann man es sich kaum mehr vorstellen, dass hier einst Wassermassen waren.

Aber wie kam es denn nun zu dieser Umweltkatastrophe? Der Aralsee, der an der Grenze von Usbekistan zu Kasachstan liegt, wurde über Jahrtausende hinweg von zwei grossen Flüssen gespeist, dem Amu Darja und dem Syr Darja. Sie waren eigentliche Lebensadern für die ganze Region. Das änderte sich, als Josef Stalin an die Macht kam. Er beschloss, die zentralasiatischen Sowjetrepubliken in riesige Baumwollplantagen zu verwandeln. Weil die Region für den Anbau jedoch zu trocken war, wurden unzählige Bewässerungskanäle gebaut, um das Wasser der Flüsse in die Wüste umzuleiten. Mit fatalen Folgen: In den frühen 80er-Jahren war der Zustrom zum Aralsee völlig versiegt. Um den Nordteil des Sees, der auf kasachischem Boden liegt, zu retten, wurde danach zwar ein Damm gebaut. Dort stieg der Wasserpegel wieder ein wenig. Dafür erhält der usbekische Teil des Aralsees noch weniger Wasser und schrumpft weiter.

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Das ehemalige Bett des Aralsees.

Nichts kann die Katastrophe besser illustrieren als ein Besuch in Muynak. Die Stadt war einst eines der wichtigsten Fischfangzentren der Sowjetunion, heute ist sie mehr als 100 Kilometer vom Aralsee entfernt. Die Fischerei war lange Zeit die Hauptbeschäftigung der Menschen in der Aralregion. Die Konservenfabrik der Stadt produzierte noch Ende der 50er-Jahre mehr als 20 Millionen Fischdosen pro Jahr. Dann sank der Wasserspiegel. Die Sowjetführung registrierte dies zwar, offiziell hiess es aber, das müsse man in Kauf nehmen – und habe auch einen positiven Effekt: So gebe es neues Land für die Baumwolle.

Spätestens in den 80er-Jahren war klar, dass die Fischerei in Muynak am Ende ist. Um nicht schliessen zu müssen, importierte die Konservenfabrik nun Fisch von der Ostsee und dem Pazifik. Die fertigen Dosen wurden dann wieder an den Pazifik zurückgeschickt. Logisch, dass dieses Geschäftsmodell nicht wirtschaftlich sein konnte. 1990 wurde die Fabrik in Muynak geschlossen.

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Im Ortsschild von Muynak befindet sich ein Fisch – als Zeuge der Vergangenheit.

Wir fahren auf unserem Ausflug an der Geisterfabrik vorbei. Sie ist sinnbildlich fürs Schicksal der Stadt, die auch einen grossen Teil ihrer Bevölkerung verloren hat. Ein Museum hält die Erinnerung an die Zeiten als Fischerstadt wach. Zwar ist das Museum nicht auf internationale Besucher ausgerichtet, alles ist auf Russisch angeschrieben. Die ausgestellten Fotos sind aber eindrücklich – gerade als Gegensatz zum heutigen Muynak. Statt dem einst geschäftigen Treiben überwiegt heute auf den Strassen die Leere. Begleitet von staubigem, salzigem Wind, der zahlreiche Pestizide aus der Landwirtschaft enthält. Was zur Folge hat, dass Speiseröhrenkrebs in der Gegend 25-mal häufiger vorkommt als im Weltdurchschnitt.

Am Stadtrand besuchen wir noch einen Schiffsfriedhof. Die Schiffe, die einst täglich hinaus auf den Aralsee fuhren, liegen heute verrostet im Sand. Als stumme Zeugen der Vergangenheit. So wie auch das Ortsschild, das einen Fisch enthält.

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Der Schiffsfriedhof von Muynak.

Uns stellt sich bei diesem beklemmenden Besuch die Frage, wie es mit dieser Gegend weitergeht? Das Wasser, so viel steht fest, kehrt nicht zurück. Zumal aus den Fehlern der Vergangenheit auch nicht gelernt worden ist und immer noch Baumwolle angepflanzt wird. Hoffnung macht der Bevölkerung, dass Gas gefunden wurde im ehemaligen See. Derzeit beginnen Investoren mit dessen Förderung. Wir fahren an den Bohrtürmen vorbei. Vor allem chinesische Geldgeber engagieren sich hier. Allerdings steckt alles noch in den Kinderschuhen. Das zeigt sich daran, dass die Förderstätten derzeit nur über eine Rumpelpiste erreichbar sind, die auch wir befahren. Normalerweise führt das Engagement Chinas nämlich dazu, dass kräftig in die Infrastruktur investiert wird. Sprich: neue Strassen gebaut werden. Im usbekischen Westen ist dies (noch) nicht der Fall.

Wir tauschen nach zwei Tagen unseren Geländewagen gegen ein normales Taxi ein – und fahren in drei Stunden vom deprimierenden Aralsee an einen Ort, der besser ist fürs Gemüt: nach Khiva. Das ist eine zauberhafte Oasenstadt im Nordwesten Usbekistans. Khiva war bereits im 10. Jahrhundert eine bedeutende Handelsstadt. Mehrere Male wurde sie zerstört, aber immer wieder aufgebaut. Sie wurde unter anderem von Dschingis Khan eingenommen.

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Khiva.

Beeindruckend an der Stadt ist, dass die Sehenswürdigkeiten auf engstem Raum innerhalb der historischen Stadtmauern zu finden sind. Die Altstadt ist wie ein Freilichtmuseum mit zahlreichen Moscheen, Koranschulen und Mausoleen. Ein Klischeebild wie entsprungen aus Tausendundeiner Nacht. Wir kaufen uns ein Ticket, das uns den Zugang zu allen Sehenswürdigkeiten erlaubt. Dies lohnt sich. Zu den markantesten orientalischen Bauwerken gehören die Mauern der Kunya-Ark-Festung, auf denen sich ein Spaziergang lohnt, der Palast Tasch-Hauli sowie die Minarette Islam Hodscha und Kalta Minor. Letzteres sollte eigentlich mal das höchste Minarett der Welt werden. Doch die Arbeiten wurden nie vollendet, so dass es bei 26 Metern blieb.

Uns gefällt die entspannte Atmosphäre in Khiva. Das Städtchen ist nicht überlaufen – und versprüht mehr Atmosphäre als andere historische Orte in Usbekistan. So viel sei schon mal vorweggenommen. Schön sind die vielen Begegnungen mit Kindern. Sie umringen uns und wollen meistens nur etwas: Von uns fotografiert werden. Augenscheinlich sind wir als Individualtouristen eine Attraktion und weil wir – anders als fast alle anderen Besucher – nicht in einer grossen Gruppe unterwegs sind, trauen sich die Kinder auch, auf uns zuzukommen.

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Stadtmauer von Khiva.

Wir verlassen Khiva am frühen Morgen und begeben uns auf eine anstrengende Fahrt mit dem Auto quer durch die Kysylkum-Wüste. Wir haben dafür einen Taxifahrer organisiert. Wahrscheinlich wäre dies gar nicht nötig gewesen. In Usbekistan stellen wir nämlich fest, dass man im Land auch problemlos per Autostopp unterwegs sein kann. Hand raus – und schon hält ein Auto. Allerdings wird man nicht umsonst mitgenommen, sondern es wird erwartet, dass man sich an den Kosten für die Fahrt beteiligt. Also einen Beitrag leistet ans Gas, mit dem die meisten Autos in diesem gasreichen Land unterwegs sind. Während unserer Fahrt lesen wir in unseren Reiseführern, denn die vorbeiziehende Landschaft bietet kaum Abwechslung, aber es führt kein anderer Weg zu unserem nächsten Ziel als diese schier endlos bis zum Horizont verlaufende Wüstenpiste. Nach über sechs Stunden sind wir endlich da – Bukhara.

Dort erschwischt uns die Seuche. Der Magen spielt verrückt, wir haben uns eine Lebensmittelvergiftung eingefangen und liegen flach. Wir verbringen fast die ganzen zwei Tage in Bukhara im Bett. Zwischendurch schleppen wir uns immer wieder mal raus auf die Strasse, weil es ja nicht sein kann, dass wir nichts von diesem grossartigen Ort mitnehmen. Bei Temperaturen um 35 Grad und Fieber ist das jedoch ziemlich anstrengend.

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Silk-and-Spices-Festival in Bukhara.

Dabei präsentiert sich Bukhara von seiner schönsten Seite. Es findet gerade das Silk-and-Spices-Festival statt. Ein Folklore-Fest, das jährlich über die Bühne geht und an die Vergangenheit erinnert, als Bukhara ein wichtiges Handelszentrum an der Seidenstrasse war. Es gibt Umzüge mit vielen Menschen in farbigen Kostümen und teilweise mit Masken, was uns ein wenig an die Fasnacht erinnert. Es wird Musik gemacht, die Kampfschulen zeigen, was die Kinder bei ihnen gelernt haben, ganz Bukhara ist auf den Beinen und lässt es sich an den zahlreichen Verpflegungsständen gutgehen.

Bukhara ist eine eindrückliche Stadt. Es gibt viele Moscheen, Schreine und Koranschulen, die wunderbar erhalten sind. 140 mittelalterliche Bauwerke sollen es sein. Eines der Wahrzeichen ist das Kalyan-Minarett, das im 12. Jahrhundert gebaut wurde. Zu jener Zeit war es das höchste Minarett in Zentralasien. Es war quasi ein Leuchtturm, der den reisenden Karawanen und Pilgern den Weg nach Bukhara wies.

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Blick von der Zitadelle auf Bukhara.

Eindrücklich ist auch der Ark. Das ist eine Zitadelle, die den lokalen Herrschern jahrhundertelang als Residenz diente. Sie liegt auf einem künstlich aufgeschütteten Hügel. Daher hat man von der Mauer der Zitadelle einen schönen Blick über die ganze Stadt. Eigentlich ist der Zugang zur Mauer verboten. Doch es ist allgemein bekannt, dass die Polizisten, die diesen Zugang bewachen, für ein bisschen Geld das Tor öffnen. Bei uns funktioniert dies jedenfalls problemlos. Genauso problemlos, wie man übrigens Dollar auf dem Schwarzmarkt gegen die einheimische Währung, den Som, wechseln kann. Obwohl dies verboten ist, schauen die Polizisten auch dort weg. Der Wechselkurs ist um ein Mehrfaches besser als bei den Banken.

Besonders gefällt uns in Bukhara der Chor Minor, ein Gebäude mit vier Türmen, die alle eine blaue Kuppel haben. Es gehörte ursprünglich zu einem grösseren Komplex, der Anfang des 19. Jahrhunderts gebaut wurde. Übrig geblieben ist dann aber eben nur noch dieses Torgebäude. Architektonisch ist es aussergewöhnlich für Zentralasien und erinnert eher an Indien. Darum hebt es sich von den anderen historischen, zumeist wesentlich älteren Gebäude der Stadt ab.

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Chor Minor.

In Bukhara wollen wir den Zug nehmen. Der Bahnhof liegt hier, wie fast überall in dieser Gegend, weit ausserhalb des Stadtzentrums, so dass wir zunächst ein Taxi nehmen müssen. Unser Ziel: Samarkand, die nächste Stadt auf der Seidenstrasse.

Wir haben Tickets der günstigsten Kategorie. Als wir am Bahnhof ankommen, umschwärmen uns jedoch sogleich Mitarbeiter der Bahn, die uns offerieren, dass wir für einen Aufpreis ein eigenes Abteil erhalten. Wir willigen ein und können uns ausstrecken auf einer Art Bett. Zudem erhalten wir frischen Tee serviert. Herrlich und definitiv die bessere Art, uns fortzubewegen als auf der Strasse. Der Zug ist schneller als das Auto, weil die Strassen mit unzähligen Schlaglöchern zumeist in einem erbärmlichen Zustand sind.

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Der Zug von Bukhara nach Samarkand.

Samarkand – nur schon der Name verspricht Magie. Keine andere Stadt in Zentralasien hat die Menschen seit Jahrhunderten ähnlich stark fasziniert wie Samarkand. Auch für die junge Nation Usbekistan hat die Stadt eine grosse Bedeutung. Samarkand ist die Stadt, die geprägt wurde von Timur Tamerlan, einem mongolischen Herrscher, der im 14. Jahrhundert mit kriegerischer Gewalt ein Riesenreich aufbaute von Zentralasien bis an den Persischen Golf und nach Indien. Timur ist der Nationalheld Usbekistans. Wobei Timur diesen Status erst mit der Unabhängigkeit des Landes erhielt. Nach dem Fall der Sowjetunion versuchten die neuen Nationen, sich auf Heldenfiguren zu einigen, die Identifikation schaffen sollen. Bei Timur scheint dies zu klappen. Unser Fahrer jedenfalls zeigt uns als Erstes mit Stolz das grosse Denkmal des Kriegers.

Timur war aber nicht nur Krieger, sondern auch Kunstliebhaber. Samarkand ist das Ergebnis davon. Aus allen Himmelsrichtungen holte der Herrscher Kunsthandwerker und Architekten in seine Hauptstadt. Sie lieferten ihr Meisterstück ab mit einem der beeindruckendsten Plätze der Welt: dem Registan. Von ihm haben wir schon viel gehört und gelesen. Gleich drei riesige Medressen, also Koranschulen, umgeben diesen Platz. Faszinierend sind die türkisfarbenen Kuppeln, die grossen Minarette und die gewaltigen Eingangsportale. Die erste Fassade baute Timurs Grossenkel Ulughbek im 15. Jahrhundert. 200 Jahre später wurden dann die zwei anderen Medressen gebaut. Zahlreiche Erdbeben haben den Minaretten zwar etwas zugesetzt, die Anlage wurde aber von den Sowjets und auch von den Usbeken immer wieder restauriert.

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Registan in Samarkand.

In Samarkand wurde viel Geld in die Restauration und den Wiederaufbau historischer Stätten investiert, aber auch in die allgemeine touristische Infrastruktur rund um Registan. Dies geht ein wenig auf Kosten der Authentizität. Gerade, wenn wir es mit den historischen Stätten im Iran vergleichen. Während sich beispielsweise in der iranischen Stadt Isfahan der grosse Platz und die historischen Gebäude natürlich ins Stadtbild einfügen und die Menschen dort ihre Freizeit verbringen, ist der Registan völlig von der Stadt abgetrennt. Den Platz darf nur betreten, wer ein Eintrittsticket kauft. Das führt dazu, dass er teilweise leblos wirkt. Als wir uns an den Rand des Platzes setzen, um hier den Sonnenuntergang zu geniessen, schicken uns strenge Polizisten weg. Das hat aber auch sein Gutes: Wir nehmen ein paar Meter entfernt auf einer Art Treppe Platz, um den Platz von dort aus zu fotografieren. Hier befinden sich viele Studenten. Immer wieder suchen die jungen Leute das Gespräch mit uns, um ihre Englischkenntnisse zu testen. Wir erfahren dabei, wie viele unterschiedliche Landsleute in Samarkand leben: Usbeken, Kasachen und vor allem Tadschiken. Letztere stellen die klare Mehrheit der Stadtbevölkerung, was uns aufzeigt, wie willkürlich die Landesgrenzen gezogen wurden.

Gezogen wurden diese Grenzen übrigens nicht mit dem Ende der Sowjetunion, sondern wesentlich früher: Stalin ist dafür verantwortlich. 1924 bestimmte er die Grenzen der Usbekischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Das, was heute Tadschikistan ist, gehörte damals noch zum Gebiet der Republik, wurde einige Jahre später jedoch ausgegliedert. Dafür kam in den 60er-Jahren ein Teil Kasachstans hinzu. Nach dem Fall der Sowjetunion wurden die Grenzen dann nicht mehr angetastet.

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Registan im Tageslicht.

Etwas steril wirkt auch die Umgebung des Registans. Dort hat man in den vergangenen Jahren eine Fussgängerzone gebaut, auf denen die Touristen mit Golf-Wagen umherkutschiert werden. Die meisten Geschäfte am Rand der Strasse sind auf Touristen ausgerichtet, aber menschenleer. Die Altstadt Samarkands wäre eigentlich gar nicht weit von hier entfernt. Doch man hat eine Mauer um sie herum gebaut, weil man sie offenbar nicht für vorzeigbar hält. Die Touristen sollen sie nicht zu Gesicht bekommen. Wir müssen einen ziemlichen Umweg auf uns nehmen, um durch ihre Gassen streifen zu können.

Dabei es interessant, die verschiedenen Gesichter der Stadt zu sehen. Hier das polierte touristische Zentrum, dort die nicht besonders ansehnliche, dafür aber authentische Altstadt. Und dann gibt es noch das moderne Samarkand mit der typischen Sowjet-Architektur. Dies ist der lebendigste Stadtteil. Fast alle Restaurants der Stadt befinden sich hier und man sieht viele junge Menschen auf der Strasse.

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Frühstück im Garten des Antica-Guesthouse.

Genau in der Mitte zwischen dem alten und dem sowjetische Stadtteil, also ideal gelegen, befindet sich unsere Unterkunft: Das Antica-Guesthouse. Die Schwestern, die es führen, leben bereits in der sechsten Generation in diesem Haus. Wir freuen uns über den verwilderten Garten, in dem wir unser Frühstück geniessen. Die Betreiber des Guesthouses erleben derzeit jedoch schwierige Zeiten – und Schuld daran sind die Gewohnheiten der Reisenden aus dem Westen. Früher hätten die Touristen noch Lonely-Planet-Reiseführer oder Internet-Seiten wie Tripadvisor gelesen und dann aufgrund der guten Kritiken bei ihnen ein Zimmer gebucht, erzählt Guesthouse-Betreiberin Diyora. Heute würden die Touristen fast nur noch Unterkünfte buchen, die bei booking.com aufgeführt sind. Wer dort nicht mitmache, so wie das Antica, für den laufe das Geschäft schlecht.

Umso beliebter bei Besuchern ist dagegen die letzte Sehenswürdigkeit, die wir in Samarkand besuchen: die Grabstätte Shah-i-Zinda. Sie ist eine der bekanntesten Nekropolen Zentralasiens und hat für die Usbeken bis heute eine tiefe spirituelle Bedeutung. Das zeigt sich an den Heerscharen von einheimischen Pilgern und Touristen. Zahlreiche Mausoleen, Tempel und andere Gebäude gibt es zu bestaunen, die ältesten stammen aus dem 11. Jahrhundert. Alle sind sie einer Treppe entlang aufgereiht. Es ist ein wunderbarer Schaukasten orientalischer Künste.

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Shah-i-Zinda.

In Samarkand nehmen wir dann erneut den Zug – und sind verblüfft. Der Afrosiyob ist nämlich ein moderner Hochgeschwindigkeitszug, der in Spanien hergestellt wurde und bis zu 250 Kilometer pro Stunde fährt. Für die knapp 350 Kilometer bis in die usbekische Hauptstadt benötigt der Zug nur rund zwei Stunden. Beeindruckend ist auch der Service in den Wagons. Uns wird wie im Flugzeug ein Menü serviert.

Tashkent ist mit über zwei Millionen Einwohnern nicht nur die grösste Stadt des Landes, sondern auch Zentralasiens. Sie wirkt auf den ersten Blick sehr modern und von der langen Geschichte ist kaum etwas zu sehen. Vielmehr prägen mehrspurige Strassen, monumentale Gebäude und grosse Parks die weitläufige Stadt. Grössere Sehenswürdigkeiten bietet Taschkent denn auch nicht. Aus diesem Grund schlendern wir einfach ein wenig durch die Stadt. Wir haben ohnehin nur einen Tag hier eingeplant. Wir besuchen den Chorsu-Basar mit seiner blau-grünen Kuppelhalle und schauen dem Markttreiben zu. Zudem gönnen wir uns hier das erste westliche Essen in Zentralasien. Nach zehn Tagen, in denen wir meist Hammelfleisch vorgesetzt erhielten, schmecken die Pasta köstlich.

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Farbenfrohes Angebot auf dem Basar.

In der Stadt fahren wir vor allem mit der U-Bahn, der einzigen Untergrund-Bahn in Zentralasien. Die Bahn wurde in den 70er-Jahren gebaut – wenige Jahre, nachdem ein Erdbeben grosse Teile der Stadt zerstört hatte und sie verfügt über Stationen mit grosszügigen Gewölben und schönen Deckenlampen. Vorbild war die Moskauer U-Bahn, das sieht man den Stationen an. Die meisten von ihnen sind mit Marmor verkleidet. Leider wütet auch hier die Bürokratie. Ausländer werden alle kontrolliert, wenn sie eine Station betreten wollen. Wir müssen unsere Ausweise zeigen und unsere Taschen öffnen, während die Einheimischen unbehelligt passieren können. Fotografieren ist hier verboten. Der Grund: Die U-Bahn kann in einen Atomschutzbunker umfunktioniert werden und gilt daher als militärische Anlage.

Wir verlassen schliesslich Taschkent – und fliegen über Kasachstan nach Kirgistan. Was bleibt uns von Usbekistan? Wir haben ein Land erlebt mit einem unglaublichen Reichtum an Kulturgütern, an wunderschönen Bauwerken. Gleichzeitig haben wir einen Polizeistaat kennengelernt. Usbekistan ist aber auch ein offenes Land. Ein Land mit vielen netten Menschen, die sich über Besucher aus dem Westen freuen, sich mit ihnen unterhalten und Fotos machen wollen. Ein muslimisches Land, in dem der Islam sehr liberal ausgelegt wird. Verschleierte Frauen sahen wir nicht auf der Strasse. Die Frauen sind sehr modisch und lieben kräftige Farben, Strass und Glitzer und tragen höchstens ein lose gebundenes Kopftuch.

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Frauen in Samarkand.

Die säkulare Haltung, die von der Regierung vorgegeben wird, hat in der Vergangenheit leider auch zu vereinzelten terroristischen Anschlägen von Islamisten geführt. Usbekistan gilt aber als relativ stabiles Land. Es ist definitiv eine Reise wert. So wie auch unsere nächste Destination. Deshalb gilt: Fortsetzung folgt.

Text: Patrick Künzle. Fotos: Andreas Beglinger.