Am Ende der Welt

Der Kellner seufzt. Er wirkt wenig erfreut, dass wir in seinem Restaurant essen und trinken wollen. Betont langsam geht er in die Küche, um die Speisekarten zu holen – nach ein paar Minuten hat er sie dann gefunden und legt sie uns auf den Tisch. Mit einem neuerlichen Seufzer.

An einem anderen Ort auf der Welt würden wir uns vielleicht über den Kellner aufregen – zumal die Preise im „Te Moana“ gesalzen sind. Hier wäre es seltsam sich aufzuregen. Wir sitzen auf der Veranda des Restaurants und blicken auf die Hauptstrasse von Hanga Roa, der einzigen Ortschaft der Osterinsel. Während wir auf unseren frischen Fisch warten, zieht das Leben in Zeitlupe an uns vorbei. Menschen, von denen es keiner eilig zu haben scheint. Ein Pferd, das niemandem gehört. Stets im Ohr: das Rauschen des Pazifiks. Und was passt besser zu einem derart entschleunigten Ort als ein entschleunigter Kellner?

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Der gemächliche Lebensrhythmus ist die grösste Kostbarkeit der Osterinsel. Kostbar deshalb, weil die Wahrzeichen der Insel, die grossen Steinskulpturen, weltberühmt sind – und eigentlich Heerscharen von Touristen anlocken müssten. Der Tourismus ist zwar tatsächlich die wichtigste Einnahmequelle der Insel, aber er wirkt deutlich weniger aufdringlich als anderswo. Sogar die Skultpturen, die Moai, hat man bisweilen minutenlang für sich alleine.

Möglich ist dies, weil Rapa Nui, wie die Osterinsel in der Sprache der Einheimischen heisst, einer der abgelegensten Orte der Welt ist. Politisch gehört das Eiland zu Chile, die Hauptstadt Santiago ist jedoch fünf Flugstunden entfernt. Und auch bis zum nächsten bewohnten Stück Land sind es mehr als 2000 Kilometer. Touristen, die hierher kommen, sind Überzeugungstäter. Überzeugt, dass sich die lange Reise lohnt.

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Wir steigen in einen kleinen Geländewagen und lassen Hanga Roa hinter uns. Auf einer holprigen Sandpiste fahren wir der Küste entlang. Die Landschaft ist karg, Steinbrocken säumen den Weg, es gibt viel Gras, ein paar Sträucher, keine Bäume. Die grossen Palmwälder auf der Osterinsel haben die Bewohner vor mehr als 500 Jahren abgeholzt. Eine von Menschenhand verursachte Naturkatastrophe, deren Folgen heute noch sichtbar sind. Der Wind pfeift über die Insel und der Boden ist schutzlos der Erosion ausgesetzt. Ein schlechter Ort für Landwirtschaft. Die meisten Lebensmittel für die knapp 6000 Bewohner der Osterinsel und für die Touristen müssen daher aus Chile eingeflogen werden – das erklärt die relativ teuren Restaurants.

Die Sandpiste schlängelt sich landeinwärts den Hügel hinauf – und plötzlich stehen sie vor uns: sieben Steinkolosse. Die erste Begegnung mit den Moai ist atemberaubend. Die sieben Kerle sind etwa zehn Meter gross und tonnenschwer. Sie blicken vom Hügel herab stoisch aufs Meer hinaus – und das macht sie aussergewöhnlich. Alle anderen Moai blicken nämlich landeinwärts. Warum das so ist, dafür gibt es keine stichhaltigen Erklärungen.

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Diese Aura des Unerklärlichen umgibt alle Steinskulpturen auf der Osterinsel. Ihre Geschichte ist voller Rätsel. Angefangen bei ihrer Bedeutung. Was symbolisieren sie? Warum wurden sie errichtet? Keiner weiss es. Als gesichert gilt, dass die Bewohner der Osterinsel zwischen 1250 und 1500 mehrere hundert Moai aus dem Felsen des Vulkans Rano-Raraku schlugen und sie an verschiedene Orte auf der Insel transportierten. Warum die Produktion später eingestellt wurde, das weiss hingegen niemand – noch heute liegen im Steinbruch unzählige unfertige Moai.

Der erste Europäer auf der Insel war der holländische Seefahrer Jacob Roggeveen. Er „entdeckte“ sie an Ostern 1722 und gab ihr ihren heutigen Namen. Damals waren die Moai auf der Insel alle noch intakt. Fünfzig Jahre später lagen sie am Boden, waren teilweise zerstört. Die Gründe dafür liegen ebenfalls im Dunkeln.

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Heute stehen auf der Osterinsel wieder mehrere Moai-Formationen. Wissenschaftler haben sie im 20. Jahrhundert wieder aufgebaut – auch die sieben Steinkerle, die vor uns stehen und aufs Meer hinaus schauen. Wir lassen sie zurück als Bewacher unseres Geländeautos, packen Windjacken und Wasserflaschen in unsere Rucksäcke – und steigen weiter den Hügel hinauf. Das Ziel: der Maunga Terevaka – mit rund 520 Metern die höchste Erhebung der Osterinsel. Der Aufstieg dauert knapp zwei Stunden, immer wieder werden wir begleitet von Wildpferden. Je höher wir steigen, desto kühler ist es. Hier, mitten im Pazifik, sinken die Temperaturen rasch, wenn man auf einen Hügel steigt. Der Gipfel des Maunga Terevaka schliesslich ist so flach, dass wir ihn als solchen kaum erkennen würden, stünde da nicht ein kleines Steinhäufchen. Umso beeindruckender die Aussicht. Ein 360-Grad-Panorama über die ganze Insel und weit und breit sehen wir keine anderen Menschen.

Zurück in Hanga Roa sind wir wieder zwar wieder unter Menschen – aber selbst auf die Touristen wirkt die Langsamkeit der Insel ansteckend. Zwei Schweizer Frauen, denen das chilenische Bargeld ausgegangen ist, nehmen gelassen zur Kenntnis, dass alle vier Bankomaten auf der Insel leer sind. Dann stellen sie sich halt in der einzigen Bank von Hanga Roa in die Warteschlange und warten zwei Stunden auf ihr Geld.

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Wir wohnen ausserhalb von Hanga Roa. Unserem Gastgeber Christophe hat es der Lebensrhythmus der Insel ebenfalls angetan. Der Franzose absolvierte seinen Militärdienst in Tahiti, freundete sich mit der polynesischen Kultur an und besuchte mehrere Inseln – auf der Osterinsel gefiel es ihm am Besten. Er heiratete eine Einheimische, wurde Vater von zwei Kindern – und vermietet nun das Nebengebäude seines Eigenheims an Touristen. Zurück nach Europa? Undenkbar. In Paris finde er sich bei seinen Besuchen ob der Hektik kaum mehr zurecht, sagt er. Zudem vermisse er dort die Sonnenuntergänge.

Unseren ersten Sonnenuntergang erleben wir auf der Veranda des Restaurants „Te Moana“. Unser Kellner hat mittlerweile seine schlechte Laune abgelegt. Vermutlich, weil wir seinen Kaffee zu schätzen wissen. Der junge Mann kommt mit einem Köfferchen an unseren Tisch und öffnet es mit einer theatralischen Geste. Darin befinden sich Nespresso-Kapseln in ganz verschiedenen Farben, wir dürfen unsere persönliche Kaffee-Kapsel aussuchen – und es bleibt die Gewissheit: Am anderen Ende der Welt ist offenbar Schweizer Kaffee der letzte Schrei.

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Fotos: Andreas Beglinger