Durchs wilde Kirgistan

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Unendliche Weiten, viel Natur – das ist Kirgistan

Es ist schon dunkel, als wir in Bishkek landen, der Hauptstadt Kirgistans. Nachdem wir Usbekistan und Turkmenistan vor allem wegen der Kultur und Architektur besucht haben, zieht uns hier etwas anderes an. 94 Prozent der Landesfläche sind Gebirge. Die Natur ist die grosse Attraktion. Dies macht das Land zum Ziel von Trekking-Touristen. Wir sind überrascht, wie unbürokratisch die Einreise erfolgt. Wir wussten zwar, dass wir kein Visum benötigen. Dass die Zollformalitäten jedoch gleich schnell erledigt sind wie in einem EU-Land, ist dann doch verblüffend.

Wir werden am Flughafen erwartet von Myrzabek. Er ist der Leiter von CBT Kirgistan. CBT – das bedeutet: Community Based Tourism. Die Organisation gibt es seit knapp 20 Jahren und sie hat Pionierarbeit geleistet in Kirgistan. In einem Land, in dem es ausserhalb der Hauptstadt keine klassische touristische Infrastruktur wie Hotels oder Öffentlichen Verkehr gibt, hat CBT das Reisen möglich gemacht. Von Anfang an ging es nicht nur darum, ausländische Gäste anzuziehen, sondern auch der lokalen Bevölkerung zu helfen. Sie soll direkt vom Tourismus profitieren. Das Hauptziel sei, „die Lebensbedingungen der Menschen in abgelegenen Gebieten zu verbessern, ohne dass die Natur unter dem Tourismus leidet“, erzählt uns Myrzabek. Die Organisation vernetze lokale Bauernfamilien und ermögliche es ihnen, Gäste zu beherbergen oder ihnen Trekkings anzubieten. 

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Unterwegs in Kirgistan

Wir finden es schön, dass sich der Chef von CBT Kirgistan einen Abend lang Zeit nimmt, uns zu erklären, wie seine Organisation funktioniert. Er lädt uns ein in ein traditionelles kirgisisches Restaurant: Das Chaikhana Navat ist ein reich mit farbigen Wandteppichen dekoriertes Lokal, das an diesem Abend bis auf den letzten Platz gefüllt ist. Es spielt eine Folklore-Band, es ist aber nicht – wie an so vielen anderen Orten – organisierter Kitsch für Touristen. Wir sind die einzigen Fremden hier. Die Folklore ist authentisch. So authentisch wie das Essen, das in grossen Portionen serviert wird.

Myrzabek freut sich darüber, dass wir aus der Schweiz kommen. Der Grund: CBT Kirgistan wurde mit viel Hilfe aus der Schweiz gegründet. Die Entwicklungshilfe-Organisation Helvetas initiierte im Jahr 2000 das Tourismus-Projekt. Sie bildete in Kirigstan Einheimische aus. Diese sollten mit dem erworbenen Wissen CBT Kirgistan aufbauen, so dass die Organisation irgendwann auf eigenen Füssen stehen kann. Dies ist gelungen: Mittlerweile ist CBT Kirgistan nicht mehr auf finanzielle Unterstützung aus der Schweiz angewiesen. Myrzabek erzählt aber, dass er selber immer wieder zur Weiterbildung in die Schweiz reise. Und er sagt, dass im Winter jeweils Schweizer Skilehrer nach Kirgistan kommen, um den Schneesport zu fördern. Dieses Projekt sei auf fünf Jahre angelegt. Die Idee sei, dass junge Kirgisen im Winter, wenn die Trekking-Touristen weg sind, als Skilehrer arbeiten könnten und damit ein Einkommen hätten.  Tatsächlich hat der Wintersport in Kirgistan Potenzial. In Karakol gibt es eine Skistation, die Gegend ist schneesicher und es gibt zahlungskräftige Kundschaft aus Russland und Kasachstan.

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Eine typische Nebenstrasse in einem typischen kirgisischen Städtchen

Nach dem spannenden Gespräch fahren wir in unser Hotel, wo wir ein hübsches Zimmer beziehen. Am nächsten Tag startet unser Kirgistan-Abenteuer. Mit Ivan. Er begrüsst uns vor dem Hotel. Ivan ist Mitte 50, kam zu Sowjetzeiten mit seinen Eltern aus Russland nach Kirgistan. Später diente in der Sowjet-Armee, trauert dieser Zeit immer noch nach und arbeitet heute als Fahrer für Touristen. Uns begleitet er die kommenden acht Tage durch Kirgistan. Ivan ist ein Glücksfall, wie wir unterwegs noch feststellen werden. Zwar können wir uns nur bruchstückhaft unterhalten, da Ivan kaum Englisch spricht und wir kein Russisch. Wenn er uns aber mal dringend etwas mitteilen möchte, spricht er einen Satz auf Russisch in sein Handy, das ihm dann die Übersetzung liefert. So verständigen wir uns prima.

Von Bischkek sehen wir kaum etwas. Bei der Fahrt durch die Stadt fällt uns lediglich auf, dass – anders als im Polizeistaat Usbekistan – für einmal nicht an jeder Ecke ein Beamter steht. Später merken wir, dass die Polizisten hier ihre Zeit offenbar lieber damit verbringen, an Landstrassen zu stehen und Geschwindigkeitsbussen auszusprechen. Unser Fahrer Ivan gibt uns zu verstehen, dass diese Geschwindigkeitsbussen willkürlich seien. Man könnte sie auch als Schmiergeld bezeichnen.

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Burana-Turm

Es geht ostwärts. Unser erstes Ziel ist der Burana-Turm. Es gibt in Kirgistan nicht allzu viele historische Bauwerke zu bestaunen. Der Burana-Turm ist eine Ausnahme. Es handelt sich um ein Minarett, das als einziges Bauwerk noch übrig geblieben ist von einer Stadt aus dem 9. Jahrhundert. Der Turm war einst 45 Meter hoch, heute sind es noch 25 Meter. Es ist derzeit leider nicht möglich, ihn zu besteigen – aber der Besuch lohnt sich trotzdem. Viel Zeit können wir aber nicht hier verbringen, da wir an diesem Tag noch vieles vorhaben.

Unser Ziel ist Song-Kul, der zweitgrösste See Kirgistans, der auf 3000 Meter über Meer liegt. Es ist Anfang Juni und nach einem schneereichen Winter ist der See zu dieser Zeit nur schwer erreichbar. Zunächst fahren wir nach Kochkor, eine unscheinbare Ortschaft mit knapp 10’000 Einwohnern. Dort ist das lokale Büro von Community Based Tourism. CBT ist nämlich dezentral organisiert. Verschiedene lokale Büros stellten für die Touristen vor Ort den Kontakt her zur Bevölkerung, die touristische Angebote hat.

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Kerimbek führt uns durch die unendlichen Weiten

Wir treffen Kerimbek. Der junge Mann spricht passabel Englisch. Er arbeitet während der wärmeren Monate als Reiseführer, in der restlichen Zeit verdient er sein Geld als Viehhändler. Zusammen mit ihm fahren wir aufs Land. Wir haben vor, den Song-Kul-See hoch zu Ross zu erreichen. Die Pferde mieten wir bei einer Bauernfamilie. Der Familienvater, sein Name ist Ruslan, begleitet uns zusammen mit Kerimbek auf unserem Trip. Ruslan ist dabei verantwortlich für die Pferde. Unseren Fahrer, Ivan, lassen wir zurück. Er versucht, den See mit seinem Auto zu erreichen. Wir wollen ihn am nächsten Tag dort treffen.

Wir sind keine erfahrenen Reiter. Kein Problem, signalisieren unsere zwei kirgisischen Begleiter. Die meisten Touristen, die hierher kämen, hätten noch nie auf einem Pferd gesessen. Die Tiere scheinen denn auch unerfahrene Reiter gewohnt. Jedenfalls lassen sie sich von uns geduldig führen. Meistens jedenfalls. Wenn ein Pferd dann doch einmal bockt, spricht Ruslan ein Machtwort, dann spurt es wieder. Als wir am Ende des ersten Tages, nach einem fünfstündigen Ritt, feststellen, dass unsere Pferde mittlerweile ziemlich langsam unterwegs sind, äussern wir die Vermutung: „Die Tiere sind wohl müde.“ Daraufhin sagt Kerimbek jedoch bestimmt: „Das Problem ist nicht, dass die Pferde müde sind. Das Problem ist, dass ihr keine guten Reiter seid.“ Wir müssen Lachen über so viel Ehrlichkeit.

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Eine Hirtenfamilie beherbergt uns in ihrer Jurte

Für unsere ungeübten Hinterteile ist der lange Ritt strapaziös. Aber wir werden entschädigt durch wunderschöne Landschaften, wie sie auch der kirgisische Schriftsteller Tschingis Aitmatow in seinen weltberühmten Erzählungen beschrieben hat. Hinter jeder grasbewachsenen Kuppe wartet ein bezaubernder Anblick auf uns. Weite, grüne Täler, sanfte Hügel zu allen Seiten. Wir sehen Wiesen, die mit Edelweiss übersät sind. Menschenleer ist es, dafür begegnen uns Hunderte von Schafen. Landschaftlich erinnert uns das alles sehr an die Schweiz, etwa ans Sertigtal in Davos. Bloss eben mit dem Unterschied, dass die Schweiz wesentlich dichter besiedelt ist. Kirgistan ist fünfmal grösser als die Schweiz, hat aber drei Millionen weniger Einwohner. Die Einsamkeit, die wir hier antreffen, findet man bei uns zuhause kaum.

Am Nachmittag wird es kühl. Kerimbek und Ruslan, unsere Führer, ziehen ihre Windjacken an. Wir stellen überrascht fest, dass uns diese Jacken bekannt vorkommen. Auf ihrem Rücken prangt gross der Schriftzug „Arosa“. Es sind Jacken, die ihnen Schweizer Skilehrer geschenkt haben, die im vergangenen Winter im Rahmen des oben erwähnten Projekts in Kirgistan waren. Kerimbek und Ruslan tragen die Ski-Jacken mit sichtlichem Stolz.

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Die Kinder der Hirtenfamilie

Um den See zu erreichen, müssen wir den Jalgyz-Karagai-Pass auf 3400 Metern überqueren. Zunächst übernachten wir jedoch am Fuss dieses Übergangs. Eine Nomadenfamilie verbringt hier den Sommer und hat ihre Jurten aufgestellt. Wir übernachten bei der Familie. Für uns ein schönes und intimes Erlebnis. Wir erhalten Einblick in das Leben von Nomaden, die sich mit den organisierten Trekkings und der Verpflegung von Touristen einen wichtigen Zusatzverdienst erarbeiten. Das Geld dient den Nomaden dazu, ihre traditionelle Lebenswese aufrechterhalten zu können.

Obwohl wir kein Wort mit ihnen wechseln können, freunden wir uns rasch mit den Kindern an und spielen mit ihnen. Wir sehen auch, wie hart die Frauen arbeiten. Sie kümmern sich um den Haushalt und um die Gäste. Die Mutter kocht uns ein üppiges Mahl, eine nahrhafte Suppe mit Hammelfleisch und Kartoffeln, die Tochter serviert das Essen. Den Familienvater bekommen wir kaum zu Gesicht, er ist draussen bei den Tieren, den Schafen und den Pferden. Allgemein gilt bei kirgisischen Nomaden, dass die Frauen die Hauptlast der Arbeit tragen. Als es eindunkelt, breiten wir unsere Schlafsäcke in der Jurte aus, in der wir soeben gegessen haben. Zum Entsetzen unserer Gastgeber. Mit Handzeichen geben uns zu verstehen, dass sie für uns eine eigene Jurte reserviert haben. Als wir sie betreten, sind wir verblüfft. Mit gestapelten Matrazen und Decken haben uns unsere Gastgeber richtige Betten eingerichtet. Damit haben wir wirklich nicht gerechnet, aber so lässt sich natürlich wunderbar schlafen.

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Ausblick von der Passhöhe

Am nächsten Morgen steigen wir wieder auf unsere Pferde und nehmen den Passübergang in Angriff. Ein steiler Kiesweg führt uns dorthin, den Tieren ist die Anstrengung anzumerken. Kurz vor dem Pass türmt sich plötzlich meterhoher Schnee auf dem Weg auf. Die Überreste des harten Winters. Unsere Führer finden jedoch einen Weg um den Schnee herum, der aber so schwierig zu begehen ist, dass wir von den Pferden steigen müssen. Aber wir erreichen schliesslich die Höhe. Stolz sagen unsere Begleiter, wir seien die ersten Touristen, die dieses Jahr den Pass überqueren. Wobei bloss zehn Minuten später eine weitere kleine Reisegruppe den Pass erreicht.

Der Ausblick ist toll. In der Ferne erkennen wir den Song-Kul-See. Nach weiteren zwei Stunden erreichen wir das Ufer, wo wir unser Mittagessen erhalten. Wir reiten dem Seeufer entlang und nähern wir uns gegen Abend unserem Tagesziel. Es ist ein kleines Jurten-Dorf. Im Gegensatz zum Tag zuvor dienen diese Jurten hier nicht dazu, Nomaden-Familien unterzubringen, sie sind auf Touristen ausgerichtet. Als wir ankommen, sind wir jedoch die einzigen Gäste und erfahren, dass die Jurten eben erst aufgebaut worden sind. Sie stehen nur während der warmen Monate, werden also im Juni aufgerichtet und später im September wieder abgebaut.

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Wir reiten dem Song-Kul entlang

Wir freuen uns bereits auf einen einsamen Abend an diesem atemberaubend schönen Ort. Der Blick auf den grossen Bergsee ist umwerfend, in der Umgebung grasen friedlich einige Pferde. Doch wir haben uns zu früh gefreut. Plötzlich tauchen zwei Touristen-Busse auf.

Da mittlerweile auch die Strassen zum Song-Kul-See passierbar sind, haben die Busse es hierher geschafft. Knapp zwanzig weitere Reisende übernachten heute hier. Wir trauern ein wenig der Einsamkeit nach, geniessen den Abend aber trotzdem. Zumal nun auch Ivan, unser Fahrer, auftaucht. Er zeigt uns auf seinem Handy einen Film von seiner Passüberquerung. Zeigt uns, wie sich sein Auto durch den Schnee gekämpft hat. Was uns aber am meisten freut: Ivan hat unterwegs Fische gefangen, die wir zum Abendessen geniessen. Eine willkommene Abwechslung zum vielen Hammelfleisch, das wir normalerweise vorgesetzt bekommen.

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Unsere Jurten am Song-Kul

Tags darauf tauschen wir den Pferderücken wieder mit der Rückbank in Ivans Auto, was wesentlich komfortabler ist. Vom Song-Kul-See geht es über einen Pass und dann in 32 Serpentinen hinunter ins Tal. Unser Ziel ist Tashrabat, eine alte Karawanserei. Dorthin zu gelangen, war vor einigen Jahren noch beschwerlich, die Wege waren äusserst schlecht ausgebaut. Mittlerweile sind die Strassen wie Teppiche. Der Grund: Chinesen haben in dieser Gegend in die Infrastruktur investiert.

Eine hochmoderne Strasse führt von der kirgischen Hauptstadt Bischkek über den Torugart-Pass nach Kashgar in China. Kashgar ist eine 300’000-Einwohner-Stadt im muslimischen Teil des Riesenreichs. Die Route hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, seit China daran ist, in eine neue Seidenstrasse zu investieren. In einen Handelsweg entlang der Route der klassischen Seidenstrasse. Kashgar war nämlich immer schon ein Knotenpunkt der Seidenstrasse. Für Kirgistan ist die Strasse ein Gewinn. Sie ist jedoch unter wenig schönen Umständen entstanden. Die Bauarbeiter seien „vom Arbeitgeber wie Sklaven gehalten worden“, hat der Schweizer Journalist Peter Gysling festgehalten, der für eine Dokumentation des Schweizer Fernsehens die Gegend während des Strassenbaus besuchte.

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Über diese Serpentinen fahren wir vom Song-Kul hinunter ins Tal

An der historischen Seidenstrasse liegt eben auch Tashrabat, unser Ziel – etwa 40 Kilometer von der chinesischen Grenze entfernt. Die Karawanserei stammt aus dem 15. Jahrhundert. Karawansereien haben wir schon auf unserer Reise in den Iran gesehen. Dabei handelt es sich um Unterkünfte an Karawanenrouten. Reisende konnten in Karawansereien übernachten und ihre Tiere und Handelswaren unterbringen. Der Abstand zwischen einzelnen Unterkünften betrug rund 40 Kilometer, das entsprach dem Tagespensum einer Karawane.

Die Karawanserei in Tashrabat ist geschlossen, als wir ankommen. In einer kleinen Siedlung, die unweit der Karawanserei liegt, versuchen wir jemanden zu finden, der uns die Eingangstüre aufschliessen kann – und begegnen schliesslich einer Frau, die uns weiterhilft. Weil die Karawanserei in einen Hügel hineingebaut ist, sieht sie von aussen gar nicht so gross aus. Innen stellen wir aber fest, dass sie aus rund 30 Räumen besteht.

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Die Karawanserei von Tashrabat

Aber auch hier gilt: Die eigentliche Attraktion ist die Landschaft. Tashrabat liegt auf 3100 Metern über dem Meer. Rundherum steigen die Berge in die Höhe. Wir befinden uns in einem Ausläufer des Tianshan-Gebirges, das Unesco-Welterbe ist und sich über die zentralasiatischen Staaten Kirgistan, Kasachstan, Tadschikistan und Usbekistan sowie das muslimische Uiguren-Gebiet im Nordwesten Chinas erstreckt.

Wir übernachten unweit der Karawanserei in einer Jurten-Siedlung. Abends richten wir es uns in unserem Zelt gemütlich ein, unsere Gastwirte entfachen sogar ein wärmendes Feuer im Innern, derweil der Regen aufs Dach prasselt. Als wir frühmorgens aus dem Zelt kommen, stellen wir überrascht fest, dass über Nacht einige Zentimeter Neuschnee gefallen sind. Das Wetter ist in Kirgistan eben ziemlich unberechenbar.

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Am Morgen erwartet uns eine Winterlandschaft

Und es wechselt auch rasch. Wir lassen den Schnee hinter uns und fahren gegen Osten. Am späteren Nachmittag kommen wir, nun wieder bei sehr angenehmen Temperaturen, am Issyk-Kul an. Er ist der grösste See Kirgistans: gut 180 Kilometer lang und 60 Kilometer breit – zehnmal so gross wie der Bodensee, der zweitgrösste Bergsee der Welt hinter dem Titicaca-See.

Der Issyk-Kul gefriert selbst im Winter nicht, obschon die Lufttemperaturen bis auf -20 Grad fallen können. Zu Sowjetzeiten testete das Militär im See Torpedos. Unser Nachtlager befindet sich am Südufer des Issyk-Kul, in Bokonbaevo. Es handelt sich um ein sehr schön gelegenes Jurten-Camp.

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Jurten-Camp in Bokonbaevo

In Bokonbaevo treffen wir einen Adlerjäger. Wie viele Menschen heute noch diese Tradition pflegen, ist nicht bekannt. Man schätzt, dass nur noch wenige Nomaden in Kirgistan, Kasachstan und China mit dem Steinadler jagen. In Kirgistan soll es noch etwa zwanzig Adlerjäger geben. Sie richten die Adler so ab, dass sie mit ihnen auf die Jagd gehen können. Dabei entwenden sie die Tiere entweder als Jungvögel aus dem Nest oder sie nehmen sie in jungen Jahren gefangen. Bis zum Alter von etwa 15 Jahren bleiben die Vögel bei den Adlerjägern, danach kommen sie wieder in Freiheit. So soll die Population von freilebenden Adlern erhalten bleiben.

Das Wissen über die jahrhundertealte Jagdtechnik wird innerhalb der Familie von Generation zu Generation weitergegeben. Wir lernen Ruslan kennen und seinen Vater Kubatbek. Sie pflegen die Tradition heute noch. Auf die Jagd gehen sie nur im Winter, darum haben sie nun, im Frühling, Zeit für eine kleine Demonstration. Ruslan steht mit dem Adler, er heisst Karachin, auf einem Hügel, sein Vater setzt unten in der Ebene ein Kaninchen auf den Boden, dann fliegt der Adler los und packt das Kaninchen. Die Jäger locken schliesslich den Adler vom Kaninchen weg – mit ein wenig frischem Fleisch.

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Ruslan und sein Adler Karachin

Genau so funktioniert auch die richtige Jagd. Der Adler fangen vor allem Füchse, aber auch Wölfe. Sobald sie diese ergriffen habe, werden die Adler weggelockt, damit sie das wertvolle Fell der Beutetiere nicht zerstören. Wir dürfen nach der Demonstration den mächtigen Vogel kurz auf dem Arm halten. Eindrücklich, dieses wunderschöne Tier von Nahem zu sehen und sein Gewicht von mehr als 5 Kilos zu spüren.

Nach einem tollen Abend am Ufer des Issyk-Kul geht es für uns weiter – ostwärts dem See entlang. Wir kommen in Tamga vorbei. Das ist ein kleines Nest. In den 1960er-Jahren lebte hier aber einer der damals bekanntesten Menschen der Welt. Der sowjetische Raumfahrer Juri Gagarin, der erste Mensch im All, erholte sich in der kirgischen Provinz von seinem Weltraumabenteuer. Die ehemalige Militäranlage, wo er untergebracht war, ist bei russischen Touristen immer noch sehr beliebt, obschon es kaum mehr etwas zu sehen gibt. Einzig in einem nahegelegenen Tal gibt es noch eine Büste des Kosmonauten.

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Was für ein schönes Tier

Am späten Vormittag erreichen wir schliesslich Karakol, eine Stadt mit knapp 70’000 Einwohnern. Sie ist der Ausgangspunkt für zahlreiche Trekkings ins Tianshan-Gebirge. Genau deshalb sind auch wir in der Stadt. Wir haben eine Wanderung an den idyllischen Bergsee Ala-Kul geplant, der nur zu Fuss über eine mehrtätige Wanderung erreichbar ist. Um zu starten, fahren wir zunächst in ein Seitental. Vorbei an einem Sessellift. Karakol ist eine der bekanntesten Skistationen in Zentralasien. Bei einer Brücke treffen wir, wie verabredet, unsere Begleiter für die nächsten Tage. Einen Bergführer und zwei junge Burschen, die unsere Verpflegung und unser Zelt tragen. Da wir auf 4000 Meter aufsteigen, sind wir froh, dass wir nicht alles selber mitschleppen müssen. Unsere Rucksäcke sind schwer genug und die dünne Luft macht jede Bewegung anstrengend.

Wir wandern zunächst einem Fluss entlang durch das Karakol-Tal. Es ist beeindruckend, wie rasch wir die Zivilisation hinter uns lassen und einsam die Landschaft durchstreifen. Nach etwa vier Stunden erreichen wir die nächste Brücke, überqueren den Fluss, dann beginnt ein steiler Aufstieg durch bezaubernde Nadelwälder. Am Nachmittag haben wir unser Zwischenziel erreicht. Eine einfache Holzhütte, die gebaut wurde als Unterstand für Berggänger, die sich jedoch nicht dazu eignet, um darin unser Nachtlager aufzuschlagen. Sie ist ziemlich heruntergekommen, daher ist das Zelt die bessere Option. Unsere Begleiter kochen das Abendessen, dann beginnt es, heftig zu regnen. Wir verkriechen uns in unsere Zelte. Eingehüllt in warme Kleider, weil die Temperaturen nur noch knapp über dem Nullpunkt sind.

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Unterwegs im Karakol-Tal

Am anderen Morgen sieht die Welt für uns leider unfreundlich aus. Wir haben Magenprobleme und wahrscheinlich Fieber, nicht zum ersten Mal auf unserer Reise. Wir wissen, dass der heutige Tag einen Aufstieg auf 4000 Meter beinhaltet. Wir wissen auch, dass in den höheren Lagen noch Schnee liegt und neuer Schnee über Nacht dazugekommen ist. Und dass uns die Tagesetappe auch ohne gesundheitliche Probleme und Neuschnee alles abverlangen würde. Daher sagt uns die Vernunft, dass wir die Wanderung abbrechen sollten. Das tun wir dann auch. Enorm frustrierend ist das zwar, weil der Ala-Kul-See einer der Höhepunkte unserer Zentralasien-Reise hätte werden sollen, aber es ist der richtige Entscheid. Schon nur der Abstieg zurück nach Karakal bringt uns an unsere körperlichen Grenzen.

An diesem Tag merken wir wieder einmal, welches Glückslos wir mit unserem Fahrer Ivan gezogen haben. Er hätte eigentlich einen freien Tag, da wir ja unterwegs sein sollten. Als wir ihn anrufen, organisiert er uns jedoch sogleich eine Unterkunft, steigt in sein Auto und holt uns ab. Das Guesthouse ist ein Volltreffer. Wir bekommen eine gute Mahlzeit serviert und legen uns ins Bett, um uns möglichst rasch zu erholen. Tatsächlich geht es uns tags darauf wieder einigermassen gut.

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Holzkirche von Karakol

Wir haben nun – unerwartet – einen ganzen Tag Zeit, Karakol zu erkundigen. Wir besuchen zunächst eine russisch-orthodoxe Holzkirche, die im 19. Jahrhundert gebaut wurde. Unter den Sowjets, die es nicht so mit der Religion hatten, diente sie als Tanzsaal, während des 2. Weltkriegs auch als Schule. Heute wird sie wieder für Gottesdienste benutzt. Ebenfalls komplett aus Holz und ohne einen einzigen Nagel gebaut ist die Dungan-Moschee. Sie wurde von chinesischen Muslimen errichtet, den Dunganen, die Ende des 19. Jahrhunderts in ihrer Heimat verfolgt wurden und nach Zentralasien flüchteten. In Karakol leben die Dunganen heute als kleine Minderheit. Die chinesischen Wurzeln sieht man der Moschee an, da sich beim Bauwerk auch Motive aus dem Buddhismus finden.

Weil Gotteshäuser zu besuchen hungrig macht, gehen wir ins Fat Cat. Dabei handelt es sich um ein Café mit einer bemerkenswerten Besitzerin. Zhamilia heisst sie und nimmt an unserem Tisch Platz, um sich vorzustellen. Die junge Frau absolvierte in Deutschland ihr Master-Studium. Ihr gefiel es dort, vor allem beeindruckte sie, „dass die Menschen in Deutschland soziale Verantwortung übernehmen, zueinander schauen“, wie sie erzählt. In Europa zu bleiben, war für sie jedoch keine Option. Sie wollte lieber in ihrer Heimat selber soziale Verantwortung übernehmen. Im August 2016 gründete Zhamilia ihr Café. Das Konzept: Sie bietet Speis und Trank an, der in Kirgistan normalerweise nicht serviert wird: guten Kaffee, Cheesecakes und Toasts.

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Riesenrad in Karakol

Mit dem Erlös des Cafés und mit Hilfe von Spenden hilft Zhamilia unter anderem Kindern aus der Umgebung, damit diese zur Schule gehen können. Sie erzählt uns von einer Nomaden-Familie mit vier Kindern. Bislang war es in dieser Familie so: Zwei Kinder gingen vormittags zur Schule, zwei Kinder nachmittags. Die Familie konnte es sich nicht leisten, alle vier Kinder ganztags zur Schule zu gehen. Der Grund: Es fehlte das Geld, um allen vier Kindern Schulmaterial zu kaufen. So mussten sich immer je zwei Kinder die Bleistifte und Schulhefte teilen. „Bei dieser Familie konnten mir mit wenig Mitteln viel erreichen: Wir haben ihr Schulmaterial zur Verfügung gestellt und seither gehen alle vier Kinder ganztags zur Schule.“ Eine weitere Herzensangelegenheit ist Zhamilia die Stärkung von Frauen, die häusliche Gewalt erlebt haben. Ihnen bringt sie das Backen bei, damit sie bei ihr arbeiten können und Selbstvertrauen zurückgewinnen.

Wir verabschieden uns schliesslich von der Frau, die uns mit ihrem Tatendrang beeindruckt, und schliessen den Tag ab mit einem Besuch des Vergnügungsparks. Uns ist schon in anderen Städten Zentralasiens aufgefallen, dass ein Park mit einem Riesenrad und meistens auch irgendwelchen Militärdenkmälern zum Standard gehört. Diese Rummelplätze stammen allesamt noch aus der Sowjetzeit. Das Riesenrad ist rund 40 Jahre alt. Wir gönnen uns eine Fahrt und stellen glücklicherweise erst beim Aussteigen fest, dass die Stahlseile, mit denen das Riesenrad angetrieben wird, ziemlich lädiert aussehen.

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Unterwegs nach Kasachstan begegnet uns eine Schafherde

Am kommenden Tag packen wir unsere Siebensachen. Unsere Kirgistan-Reise ist zu Ende. Unser Fahrer Ivan soll uns nach Kasachstan bringen, in die ehemalige Hauptstadt Almaty. Wir überqueren die Grenze im Nordosten Kirgistans, beim Übergang Kegen. Wir sind dort wieder einmal – so wie schon an anderen Grenzübergängen – die einzigen Touristen weit und breit. Unser russisch sprechender Fahrer ist Gold wert, er kann uns bei den Grenzformalitäten helfen. Der Grenzübertritt dauert rund eine Stunde. Wir müssen das ganze Auto ausräumen und jedes Gepäckstück durch einen Scanner schicken. Die kasachischen Grenzbeamten sind jedoch nett und versuchen, sich mit uns zu unterhalten. Irgendwann finden sie heraus, dass wir aus Basel kommen. Das Gesicht des einen Grenzbeamten hellt sich auf, er sagt: „Basel? Champions League!“. Was uns zeigt, was für ein wunderbarer Werbeträger der FC Basel für unsere Heimatstadt ist. So kennt man sie sogar in der kasachischen Provinz.

Auf dem Weg nach Almaty besuchen wir schliesslich noch den Charyn-Canyon. Er wurde durch den Charyn-Fluss in die Landschaft geschnitten. Die Gesteinsschichten sind bis zu 12 Millionen Jahre alt. Der Canyon erreicht an gewissen Stellen eine Tiefe von bis 300 Metern. Aufgrund der Felsformationen und dem roten Gestein erinnert die Szenerie ein wenig an den Grand-Canyon – ohne dessen Grösse zu erreichen.

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Charyn-Canyon

In Almaty endet unsere Zentralasien-Reise schliesslich, die uns über Turkmenistan, Usbekistan, mit einem Zwischenhalt in der kasachischen Hauptstadt Astana, durch Kirgistan geführt hat. Almaty, unsere letzte Station, ist eine überraschend hübsche Stadt. Umgeben von Bergen mit europäischem Flair. Wir fahren auf den Hausberg, den Kok-Tobe, geniessen den Ausblick auf die Stadt und schwelgen in den Erinnerungen an die vergangenen drei Wochen.

Fotos: Andreas Beglinger