Von Riesenrädern und Gaskratern

Der Weg nach Turkmenistan führt über einen Papierkrieg. Es ist umständlich, ein Visum zu erhalten. Auch wenn wir nur drei Tage im Land verbringen wollen. Wir lassen uns helfen von Ismat, der in Usbekistan als Reiseführer sein Geld verdient und den wir von der Schweiz aus kontaktiert haben. Er stellt für uns den Antrag fürs Visum, wir liefern ihm die nötigen Dokumente. Das Problem ist: Es sind immer wieder neue Dokumente gefragt. Regelmässig meldet sich Ismat, zunehmend selber von der Bürokratie genervt, mit den Wünschen der turkmenischen Behörden.

So werden wir aufgefordert, eine Kopie unseres Universitäts-Abschlusszeugnisses nach Turkmenistan zu schicken inklusive Anschrift und Telefonnummer der Hochschule. Mit am meisten Stress verbunden ist der Wunsch, eine Bestätigung des Arbeitgebers über meine Berufstätigkeit abzuliefern. Für mich ist das heikel, weil ich bei einem Medienunternehmen arbeite und Journalisten in Turkmenistan nicht gerne gesehen sind. Also bitte ich meinen Arbeitgeber, meinen tatsächlichen Beruf auf dieser Bestätigung diskret zu verschweigen. Das macht er auch, aber: Auf der Bestätigung meines Arbeitgebers steht, dass ich bei SRF arbeite. Also hoffe ich, dass kein turkmenischer Beamter auf die Idee kommt nachzusehen, um was für ein Unternehmen es sich bei diesem SRF handelt: Schweizer Radio und Fernsehen. Ich habe Glück: Nach ein paar Wochen schickt uns unser Reiseveranstalter ein Dokument mit der Bestätigung, dass wir ein Visum erhalten, wenn wir uns am entsprechenden Schalter am Flughafen melden.

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Blick über Ashgabat

Wir fliegen mit Lufthansa von Frankfurt über Baku (Aserbaidschan) nach Ashgabat, in die Hauptstadt Turkmenistans. Fast alle Fluggäste steigen in Baku aus. Nur noch etwa 30 Leute verteilen sich auf unser Flugzeug und wollen nach Turkmenistan weiterreisen. Das beinahe leere Flugzeug zeigt uns, dass ein spezielles Land auf uns wartet.

Die ehemalige Sowjetrepublik, neben Afghanistan und Iran gelegen, wird seit dem Untergang der UdSSR autoritär regiert. Zunächst von Saparmyrat Nyyazow. Er war der letzte Chef der Kommunistischen Partei, als Turkmenistan noch eine Sowjetrepublik war. Nach der Wende nannte er sich dann plötzlich Turkmenbashi, das bedeutet: Führer der Turkmenen. Er liess sich auf Lebenszeit wählen und verwandelte das Land in einen der seltsamsten Staaten der Welt. Selber sonnte er sich in einem Personenkult nordkoreanischen Ausmasses. Er übernahm die Kontrolle der gesamten Gesellschaft und wurde zum Alleinherrscher. An Stelle der kommunistischen Ideologie trat nationalistische Propaganda.

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Statue von Turkmenbashi auf dem Neutralitätsdenkmal.

Saparmyrat Nyyazow sah sich als Philosoph und Lehrer des turkmenischen Volkes. Er veröffentlichte die Ruhnama, ein Buch mit seinen Lebensregeln und -weisheiten. Ein wirres Werk, das aber in Turkmenistan behandelt wurde wie das heilige Buch einer Religion. Die Ruhnama war Pflichtstoff in der Schule und bei Führerscheinprüfungen. Zu diesem bizarren Personenkult gehörten auch zahlreiche Statuen, die überall in der Hauptstadt aufgestellt wurden. Und zahlreiche Ortschaften wurden nach Turkmenbashi benannt. Wobei dies seine Tücken hatte: Kleinere Ortschaften wurden wieder zurückbenannt, da die inflationäre Verwendung des Ortsnamens Turkmenbashi zu Verwirrungen geführt hatte. Vor gut zehn Jahren starb Turkmenbashi schliesslich. Seit seinem Tod reagiert nun sein Zahnarzt und Gesundheitsminister, Gurbanguly Berdimuhamedow. Er pflegt den Personenkult etwas zurückhaltender, führt das Land aber immer noch diktatorisch.

Der Flughafen in Ashgabat bietet uns einen Vorgeschmack auf das, was uns in den kommenden Tagen erwartet. Er ist ganz neu, wurde erst 2016 fertig gestellt. Der Flughafen hat die Kapazität, 1600 Passagiere in der Stunde abzufertigen. Als wir ankommen, kurz vor Mitternacht, befinden sich jedoch mehr Flughafenangestellte in der Ankunftshalle als Passagiere. Der Flughafen verfügt über modernste Technologie bei der Passkontrolle: Alles ist vollautomatisch. Der Pass wird gescannt, danach das Gesicht elektronisch abgetastet, die Fingerabdrücke genommen, ehe sich die Schranken für die Einreise öffnen. Das ändert jedoch nichts daran, dass wir vor dieser automatischen Passkontrolle zunächst von Schalter A zu Schalter B und wieder zurück zu Schalter A geschickt werden, um unser Visum abzuholen. Und nach der automatischen Kontrolle nimmt ein Beamter unsere Pässe nochmals genau unter die Lupe, um sie dann von Hand abzustempeln. Schliesslich müssen wir die Pässe noch mehrmals zeigen, um überhaupt das Flughafengebäude verlassen zu dürfen.

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Statuen rund ums Unabhängigkeitsdenkmal.

In Ashgabat werden wir erwartet von Ishan. Er fährt uns mit seinem Auto in unser Hotel. Ishan ist unser Begleiter während der kommenden drei Tage. In Turkmenistan dürfen sich nur jene Touristen, die ein Transitvisum haben, frei bewegen. Da die Transitvisa aber nach einem willkürlichen System vergeben werden, haben wir uns für ein Touristenvisum entschieden. Das bedeutet, dass wir uns begleiten lassen müssen von einem Reiseführer, der für einen der offiziellen Reiseveranstalter des Landes arbeitet. Ishan ist etwa 35, er erzählt uns, er habe früher als Beamter gearbeitet. Der Büroalltag habe ihm jedoch nicht gefallen, darum sei er nun Reiseführer.

Wer sich vor der Reise schlau macht über Turkmenistan, der stösst früher oder später auf Berichte, in denen die Arbeit dieser offiziellen Reiseführer beschrieben wird. Dort ist die Rede davon, dass diese Reiseführer den Behörden jeden Schritt der Touristen rapportieren, dass sie ihnen dreimal am Tag telefonisch einen Lagebericht abgeben. Es ist auch die Rede davon, dass Geheimdienstmitarbeiter den Touristen folgen und sie beobachten. Kann sein, dass das auch bei uns der Fall ist. Wir merken jedoch nichts davon. Ishan holt uns nach unserer ersten Nacht in Turkmenistan in unserem palastartigen Hotel ab, fährt dann mit unseren Reisepässen zu den städtischen Behörden, um unsere Pässe registrieren zu lassen (wieder so eine bürokratische Schikane) und sagt uns: Erkundet doch in den kommenden zwei Stunden die Innenstadt Ashgabats auf eigene Faust.

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In den Parks sieht man bloss Frauen am Saubermachen.

Wir merken rasch: Diese Innenstadt ist anders. Anders als jede andere Stadt, die wir je gesehen haben. Sie besteht ausschliesslich aus weissen Marmorbauten, Denkmälern, vierspurigen Strassen und Parks. Wir erkundigen die grosse Grünanlage, die an den Präsidentenpalast grenzt. Wobei wir um den Palast einen grossen Bogen machen sollen, um Ärger zu vermeiden, wie uns Ishan noch auf den Weg gegeben hat. Das Gebäude zu fotografieren, ist nämlich strengstens verboten. Wir halten einen Höflichkeitsabstand zum Palast ein und spazieren durch den Park. Wir sind die einzigen Besucher, die einzigen Menschen, die sich hier nicht in offizieller Funktion aufhalten. Ansonsten sehen wir nur unzählige Wachmänner und Reinigungspersonal. Diese wegen der Hitze vermummten Frauen haben die bedauernswerte Aufgabe, einen ohnehin bereits sehr sauberen Park zu säubern. Sie polieren sogar die Verkehrsschilder der angrenzenden Strasse.

Warum ist die Innenstadt menschenleer, wo sind die ganz normalen Turkmeninnen und Turkmenen? Wir wissen es nicht. Vielleicht weiss es Ishan, unser Reiseführer. Diese Frage bekomme er immer wieder von Touristen gestellt, erzählt er. Die Antwort sei einfach: Turkmenistan habe nicht besonders viele Einwohner, darum sehe man sie in der Innenstadt halt auch nicht. Eine Antwort, die uns nur mässig überzeugt. Immerhin leben in Ashgabat mehr Menschen als in jeder Schweizer Stadt. Und dort sind die Innenstädte sogar an einem Dienstag morgens um vier Uhr noch voller als hier. Ausserdem stehen in Ashgabat ja auch unzählige protzige Marmorhäuser, alle in den vergangenen Jahren neu erstellt – sind sie denn alle menschenleer, bloss nette Fassaden? Fragen, auf die wir keine Antwort erhalten. Zumindest nicht von unserem Reiseführer.

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Breite, moderne Strassen, aber kaum Autos.

Allmählich wird uns bewusst, in was für einer Stadt wir hier gelandet sind. Das ist tatsächlich ein Potemkinsches Dorf. Die „Berliner Zeitung“ bezeichnete Ashgabat in einem Artikel treffend als „Attrappe eines modernen, luxuriösen, reichen Turkmenistans – so vollkommen, dass sie von der Wirklichkeit nicht zu unterscheiden wäre“. Eine Fassade wie jene, die Fürst Potemkin einst errichtet haben soll, bloss nicht aus Holz und Karton, sondern aus kühlem, echtem Marmor.

Ishan führt uns nun zu den Sehenswürdigkeiten am Rand der Stadt. Auch hier reiht sich eine Kuriosität an die nächste. Unsere liebste Seltsamkeit ist ein knapp 50 Meter grosses Riesenrad. Dieses habe Aufnahme gefunden ins Guinness-Buch der Rekorde, erzählt uns Ishan stolz. Es sei das grösste Indoor-Riesenrad der Welt. Ein Weltrekord, den Ashgabat wohl auch kaum jemand streitig macht. Denn Indoor-Riesenräder dünken uns jetzt mal so rein grundsätzlich nicht wahnsinnig sinnvoll. Die Aussicht durch die trüben Glasscheiben des Gebäudes ist jedenfalls – zurückhaltend formuliert – bescheiden. Wir können das beurteilen, weil die Riesenrad-Betreiber das Gerät eigens für uns in Gang setzen (auch hier sind wir die einzigen Besucher). Wir stellen fest: Die Kabinen des Riesenrads sind Made in Switzerland. Es sind Gondeln, die ansonsten in den Schweizer Bergen eingesetzt werden. Das Schild in der Riesenrad-Kabine weist uns denn auch darauf hin, dass es verboten ist, mit dem Skischuh die automatische Türe zu blockieren. Ob hier, in der Wüstenstadt, wohl jemand mit Skischuhen unterwegs ist?

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Das grösste Indoor-Riesenrad der Welt.

In die Reihe der vielen Merkwürdigkeiten in dieser Stadt passt auch das Neutralitätsdenkmal. Es war der Gipfel des Personenkults um den früheren Präsidenten Turkmenbashi. Er liess auf der Spitze des raketenförmen Denkmals eine Goldstatue von sich selbst erstellen, die sich fortlaufend nach der Sonne dreht. Sein Nachfolger hat das Denkmal mittlerweile aus dem Zentrum an den Stadtrand verbannt und die Statue dreht sich auch nicht mehr. Wobei dieser Stadtrand wohl demnächst gar kein Stadtrand mehr ist. Im Süden, dort wo sich die Statue befindet, wird nämlich immer noch fleissig gebaut. Neue Marmorgebäude entstehen. Solange, bis das natürliche Ende dieses Baubooms erreicht ist: die Kopet-Dag-Berge. Sie begrenzen die Stadt im Süden, hinter der Bergkette liegt der Iran.

Wir fahren danach an den nördlichen Stadtrand. Hier ist das alte Ashgabat. Wobei alt relativ ist. Die Stadt wurde 1948 von einem Erdbeben praktisch vollständig zerstört. Die meisten Gebäude wurden daher später gebaut. Hier, im Norden, findet sich typische Sowjet-Architektur. Plattenbauten. Hier gibt es dafür endlich normales Leben. Menschen, die einkaufen gehen. Kinder, die auf dem Trottoir spielen. Es verstärkt unseren Eindruck, dass das Stadtzentrum letztlich nur eine glitzernde Fassade ist, die in erster Linie den autoritären Herrschern und den wenigen ausländischen Besuchern gefallen soll, aber im Leben der Menschen in Ashgabat keine Rolle spielt.

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Ausserhalb Ashgabats gibt es keine Hochglanz-Häuser mehr.

Als wir schliesslich die Hauptstadt verlassen, merken wir, dass mit jedem zurückgelegten Kilometer die Strasse schlechter wird. In Downtown Ashgabat gab es vierspurige Strassen, die wie Teppiche waren. Nicht, dass es vierspurige Strassen gebraucht hätte – für den spärlichen Verkehr hätte auch eine Spur längstens gereicht. Aber die Strassen waren in einem beeindruckenden Zustand. Vor den Toren der Stadt reiht sich jedoch bald Schlagloch an Schlagloch. Und das nicht etwa auf irgendwelchen Nebenstrassen, sondern auf einer der wichtigsten Transitachsen des Landes.

Die turkmenische Regierung investiert eben nicht dort, wo die breite Bevölkerung davon profitiert. Sondern dort, wo sich die Führungscrew bewegt. Eine Tatsache, die sogar unser offizieller Reisebegleiter Ishan leise zu kritisieren wagt. Seine lapidare Erklärung dafür, dass die Infrastruktur in der Provinz verlottert, während in Ashgabat der Prunk regiert: „Unsere Politiker wohnen halt in Ashgabat.“

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Abendstimmung am Darvaza-Gaskrater.

Auf unserer Autofahrt fallen uns die vielen Gasleitungen am Strassenrand auf. Turkmenistan hat die viertgrössten Gasreserven der Welt. Weil das Land dermassen gesegnet ist mit diesem Rohstoff, wird dieser gratis an die Bevölkerung abgegeben – ebenso wie Strom und Wasser. Wobei der aktuelle Präsident diese Gratis-Abgabe derzeit gerade in Frage stellt.

Wir fahren Richtung Norden. Unser Ziel ist die Karakum-Wüste – etwa 270 Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Turkmenistan ist ein Wüstenstaat, 80 Prozent seiner Fläche besteht aus Wüste. In der Karakum-Wüste befindet sich das „Tor zur Hölle“. Gemeint ist ein Krater, in dem seit mehr als 40 Jahren Flammen lodern. Das 60 Meter breite und 20 Meter tiefe Erdloch ist 1971 entstanden durch Bohrungen in einem riesigen Erdgasfeld. Als damals Gas ausströmte, beschloss man, dieses anzuzünden. Man nahm an, dass das Gas bald zu Ende sein und das Feuer erlöschen würde. Ein Irrtum.

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Netter Ort für einen Feierabend-Drink.

Da Turkmenistan eines der abgeschottetsten Länder der Welt ist und wir am Flughafen kaum Touristen gesehen haben, gehen wir davon aus, dass es nur ganz wenige Besucher gibt am Krater. Unser Reiseführer raubt uns jedoch diese Illusion. „An Spitzentagen kommen bis zu 200 Touristen zum Krater“, erzählt er. Es gebe Leute, die eigens für den Darvaza-Gaskrater nach Zentralasien fliegen. Diese Sehenswürdigkeit hat durch viele Fotos, die im sozialen Netzwerk Instagram gepostet wurden, internationale Bekanntheit erlangt.

Als wir beim Darvaza-Krater ankommen, sind jedoch bloss wenige Touristen dort. Erst im Verlaufe des Nachmittags kommen mehr und mehr Menschen. Wir staunen über den Anblick. Er ist wahrhaft atemberaubend. Der Krater ist nicht gesichert, man kann bis an dessen Rand treten. Und selber entscheiden, wie nahe man sich dem Feuer nähern möchte.

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Die einzige Möglichkeit, um in der Nähe des Kraters zu übernachten.

Was uns gefällt: Auch wenn mittlerweile offenbar immer mehr Touristen den Krater besuchen, so braucht es trotzdem weiterhin eine Portion Abenteuerlust dafür. Hotels gibt es nämlich weit und breit keine. Wer den Krater abends erleben möchte, wenn er besonders eindrucksvoll ist, der muss vor Ort im Zelt übernachten – und darf das wegen der giftigen Dämpfe nicht in unmittelbarer Nähe des Kraters tun.

Tags darauf stehen wir bereits um 6 Uhr auf. In der Dämmerung haben wir den Krater für uns ganz alleine. Ein ähnlich intensives Erlebnis wie unser Besuch des Erta-Ale-Vulkans in Äthiopien.

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Am frühen Morgen haben wir den Krater für uns alleine.

Danach fahren wir los – immer weiter Richtung Norden. Unser Ziel ist Konye-Urgench, ein Unesco-Weltkulturerbe. Zwischen dem 10. und 14. Jahrhundert hatte die Stadt eine grosse Bedeutung als Handelszentrum. Sie wurde aber zweimal weitgehend zerstört – von den Mongolen um Dschingis Khan und später noch von Tamerlans Truppen. Im Gegensatz zu den historischen Städten im Nachbarland Usbekistan wurde Konye-Urgench danach nicht mehr wieder aufgebaut. Zu sehen gibt es heute Ruinen: ein Minarett aus dem 11. Jahrhundert, ein Mausoleum aus dem 12. Jahrhundert und weitere ähnlich alte Bauten.

Wir werden im Eiltempo durch diese Sehenswürdigkeiten geschleust, weil unser turkmenischer Reiseführer ganz offensichtlich das Gefühl hat, er habe seine Aufgabe, uns zu betreuen, allmählich erledigt. Vier Stunden früher als verabredet, setzt er uns an der Grenze zu Usbekistan ab. Das ist unser nächstes Reiseziel.

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Konye-Urgench.

Und hier schliesst sich der Kreis. Wir haben unsere Reise nach Turkmenistan mit einem bürokratischen Irrsinn begonnen und wir beenden sie ebenso. Unser Reiseführer begleitet uns nicht über die Grenze, dafür hat er keine Erlaubnis. Wir verlassen sein Auto an einem Gitterzaun. Dort am Tor müssen wir unsere Pässe zeigen, dann werden wir vorbeigewinkt. Dann heisst es, in der heissen Mittagssonne rund einen Kilometer mit unseren schweren Rucksäcken durch Niemandsland zu marschieren, um den turkmenischen Grenzposten zu erreichen.

Als wir dort ankommen, müssen wir wieder unzählige Formulare ausfüllen. Vor allem aber werden unsere Rucksäcke peinlich genau untersucht. Es erschliesst sich uns zwar nicht, warum die Zöller wissen wollen, welche Medikamente in unserer Reiseapotheke sind – denn wir verlassen das Land ja. Aber wir beschliessen, die ganze Prozedur freundlich lächelnd über uns ergehen zu lassen. Wir sind darauf angewiesen, das Land verlassen zu können, da unser Visum an diesem Tag abläuft.

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Mann in Konye-Urgench.

Nach einer Dreiviertelstunde erhalten wir die nötigen Stempel in unserem Pass und dürfen aus Turkmenistan ausreisen. Nur um festzustellen, dass im Nachbarland Usbekistan die Bürokratie ähnlich anstrengend ist. Aber davon schreibe ich erst im nächsten Reisebericht. Fortsetzung folgt.

Text: Patrick Künzle. Fotos: Andreas Beglinger.

Auf der Achse des Guten

Seid ihr wahnsinnig? Was wollt ihr dort? So lässt sich die durchschnittliche Reaktion zusammenfassen, die wir auf unsere Reisepläne in der Schweiz erhalten haben. Sofern die Leute hierzulande den Iran überhaupt vom Irak unterscheiden können, existiert das Land bei vielen bloss als Klischee. Verschleierte Frauen, grimmige Männer mit Bart. Und gehört der Iran nicht auch zur Achse des Bösen, die George W. Bush nach den Anschlägen aufs World Trade Center konstruiert hat?

Da fahren wir doch lieber auf der Achse des Guten. Es ist morgens um 8 Uhr in Teheran. Die Stadt erwacht nach zwei religiösen Feiertagen wieder zum Leben. Und wie. Die Strassen sind staugeplagt. Auf den Trottoirs zu gehen, macht keinen Spass. Zu viele Leute – zudem benutzen auch die vielen Motorräder gerne das Trottoir. Logisch, auf der Strasse ist ja kein Platz. Deshalb eben fahren wir auf der Achse des Guten. Wir nehmen die Metro.

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Metro in Teheran

Metrofahren ist ein Erlebnis. Die Bahnwagen sind fahrende Bazars. Alles wird verkauft. Waschmittel, Werkzeugkoffer, Reisetaschen. Und die Leute kaufen hier tatsächlich ein. Der Junge mit den Nähsets landet an diesem Morgen einen Grosserfolg bei den Passagieren – mit einem Sonderangebot, dem sich augenscheinlich kaum jemand entziehen kann.

Uns gefällt die Metro, weil sie nicht nur ein Bazar, sondern auch ein fahrender Laufsteg ist. Die Mode wechselt. Im Süden Teherans, in den eher konservativen Stadtvierteln, tragen die Frauen viel Stoff und wenig Farbe, und bei den Männern überwiegen graue Hemden. Je nördlicher, desto bunter wird es.

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Frau in einem Café in Yazd

Modebewusste junge Frauen tragen das Kopftuch luftig auf dem Hinterkopf, bei vielen jungen Männern fallen uns die Nasenpflaster auf. Teheran gilt als Welthauptstadt der Nose Jobs, der Schönheitsoperationen an der Nase. Das Nasenpflaster ist ein Statussymbol. Es soll sogar Leute geben, die mit dem Pflaster bloss vorgaukeln, dass sie sich ihre Nase verschönern liessen. So wie bei uns vor einem Vierteljahrhundert, als Mobiltelefone noch unerschwinglich waren, Leute mit Handy-Attrappen unterwegs waren.

Die Metro ist aber auch ein Ort der netten Begegnungen. Ein Mann, ungefähr 80, kommt zu uns und sagt bloss diesen einen Satz: „Es ist schön, Sie hier zu sehen.“ Etwas, das wir auf unserer Reise in ähnlicher Form immer wieder hören. Viele Leute freuen sich darüber, Touristen aus dem Westen zu erblicken. Nicht, weil wir Devisen ins Land bringen. Sie freuen sich primär darüber, dass wir uns ein eigenes Bild über den Iran machen wollen. „Wir wissen, dass der Iran im Westen einen miserablen Ruf hat“, sagen uns unzählige Einheimische. Umso grösser ist ihre Hoffnung, dass wir, die Besucher, ein anderes, ein differenzierteres Bild des Landes nach Hause nehmen.

Darband

Wer sich auf den Iran einlässt, der merkt tatsächlich rasch, dass das Land zwar sehr wohl ein autoritärer Gottesstaat ist mit strengen Vorschriften der Mullahs. Dass vor allem junge Menschen sich aber trotzdem die Freiheit herausnehmen, in diesem Staat ihre persönliche Freiheit zu suchen. Die Mullahs mögen es beispielsweise nicht, dass sich Leute in der Öffentlichkeit vergnügen. Ein eigentliches Nachtleben gibt es deshalb nicht. Doch im Norden Teherans finden wir an unseren zwei ersten Abenden in der Stadt zwei Orte, wo ähnlich viele junge Leute den Tag ausklingen lassen wie am Basler Rheinufer. Wo sie gemeinsam essen, trinken und Wasserpfeife rauchen.

Beispielweise in Darband, wo sich einem kleinen Fluss entlang Restaurant an Restaurant reiht. Oder auf der Tabiat-Brücke. Diese Fussgängerbrücke ist eine Food-Meile mit schicken Cafés, die auch in Basel als hip gelten würden. Eine junge iranische Architektin (ja, eine Frau) hat die Brücke entworfen. Vor drei Jahren wurde sie fertiggestellt und hat sich zu einem der beliebtesten Ausflugsziele entwickelt.

Tabiat-Brücke

Diese Vergnügungsmeilen duldet das Regime. Aber junge Iraner frönen auch anderen Lastern, die streng verboten sind. Auf unserem Heimweg, am ersten Abend, riecht es an einer dunklen Strassenecke süsslich nach Haschisch. Und tatsächlich bieten uns zwei junge Männer augenzwinkernd einen Zug von ihrer Zigarette an. Auch Alkohol wird uns immer wieder offeriert.

Wir lassen aber lieber die Finger davon und trinken wohl oder übel alkoholfreies Bier (das uns schon nach drei Tagen auf den Wecker geht). Konflikte mit den Behörden möchte man als Tourist ja dann doch lieber vermeiden. Zwei Tage sind wir in Teheran. Das reicht für unseren Geschmack. Die Stadt ist zwar interessant, aber auch ein Moloch mit zu viel Verkehr. Nur schon das Überqueren von Strassen ist ein übler Spiessrutenlauf.

Blick vom Milad-Tower

Also fahren wir zum Busbahnhof mit dem Ziel: immer südwärts. In unseren zwei Wochen in Iran stellen wir fest, dass zwar recht viele westliche Touristen mittlerweile das Land bereisen, aber fast alle in geführten Reisegruppen. Dabei ist es kinderleicht, individuell zu reisen. Eben: mit dem Bus. Kaum nähern wir uns dem Busbahnhof, eilt uns bereits ein Mann entgegen, der unser Ziel wissen möchte. Kashan. Er gibt uns zu verstehen, wir sollten uns beeilen, stoppt einen bereits fahrenden Bus und verfrachtet uns in dieses Gefährt.

Drei Stunden später sind wir schon am Ziel. Kashan, eine kleine Stadt, gespickt mit historischen Bauten: Moscheen, Badehäusern, Gärten und Anwesen mit schmucken Innenhöfen, die reiche Kaufleute im 18. und 19. Jahrhundert errichten liessen. Nach der Hektik von Teheran ist Kashan eine wohltuende Oase der Langsamkeit.

Kashan

Hier kaufen wir auch eine Karte für unser Mobiltelefon, um unterwegs im Internet surfen und uns Informationen über unsere nächsten Destinationen beschaffen zu können. Man vermutete ja, dass im autoritär regierten Iran das Internet scharf zensuriert wird. Stimmt nur teilweise. Instagram gehört zur Standardausrüstung auf den Handys junger Iraner. Und auch Facebook und Twitter lassen sich mit einem technischen Kniff benutzen.

Am nächsten Tag geht es weiter. Wir nehmen ein Taxi, das uns nach Isfahan bringen soll. Unterwegs begegnen uns seltsame Schilder. Sie besagen: Fotografieren verboten. Anhalten verboten. Und vermutlich noch ganz andere Dinge, die wir aber nicht entziffern können. Unser Taxifahrer gibt uns mit Handzeichen zu verstehen, dass die Schilder ernst gemeint seien und wir die Fotokamera unbedingt in der Tasche lassen sollten. Kurz darauf fahren wir an einer Fliegerabwehrrakete vorbei. Okay, wir haben es begriffen: Besucher sind hier nicht erwünscht. Es handelt sich um die Atomanlage in Natanz. Hier wird Uran angereichert, das unter anderem für atomare Waffen verwendet werden kann. Die Anlage war ein Prestigeprojekt von ex-Präsident Mahmud Ahmedinedschad. Dessen Atompläne stellten den Iran jahrelang international ins Abseits, die Sanktionen des Westens richteten grosse wirtschaftliche Schäden im Land an. Wir sehen vor unseren Augen also ein Stück Weltpolitik – nur fotografieren dürfen wir es nicht.

Apropos Welt. Ein persisches Sprichwort sagt über unsere nächste Destination: Isfahan ist die Hälfte der Welt. Das ist natürlich eine gnadenlose Übertreibung, aber die Stadt ist wunderschön. Wir verbringen Stunden auf dem Meidan-e Emam, dem Platz des Imams. Mit neun Hektaren ist er einer der grössten Plätze der Welt.

Meidan-e Emam

Und es ist der schönste Platz, den ich je gesehen habe. Seine Funktion als Festplatz, Spielfeld, Gerichtsort und Marktplatz hat ihn zum gesellschaftlichen und kulturellen Zentrum der Stadt gemacht. Jedes einzelne Gebäude entlang des Platzes ist eine Sehenswürdigkeit. Die Königsmoschee aus dem 16. Jahrhundert. Oder der Grosse Basar, der sich vom Nordende des Platzes durch die halbe Stadt bis zur Freitagsmoschee erstreckt. Beeindruckend ist aber auch, dass der Platz noch heute als Treffpunkt für Jung und Alt in Isfahan dient. Man trifft sich zum Eis oder Tee. Familien nehmen ihre Picknick-Körbe mit. Und alle geniessen das Wasserspiel der Springbrunnen. Immer wieder merke ich, wie dankbar ich bin, dass ich hier sein darf. Eine derartige Sehenswürdigkeit würde fast überall auf der Welt von Touristenmassen überrollt. Hier dagegen kann man die Wucht und Atmosphäre des Platzes noch geniessen – und sich eines dieser göttlichen Süssigkeiten gönnen, die unter den Arkaden verkauft werden: Gaz, weisses Nougat mit Pistazien aus der Gegend.

Wir verlieben uns in diese Stadt. Auch in die Brücken Isfahans. Sie führen über den Zayandeh-Fluss. Ihre doppelstöckigen Arkadengänge laden zum Flanieren ein. Vor allem abends kommen viele Einheimische hierher, um den Sonnenuntergang zu geniessen und sich später über die prachtvoll beleuchteten Brückenbögen zu freuen. Die Brücke mit ihren vielen dunklen Ecken unter den Arkaden ist für frisch Verliebte ein idealer Ort, um sich heimlich zu treffen.

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Brücke über den Zayandeh

Viele junge Iraner nutzen auf den Brücken die Gelegenheit, um mit Touristen ins Gespräch zu kommen. Der Austausch mit ihnen ist interessant. Die jungen Leute sind gespalten. Sie sind stolz auf ihr Land mit seiner alten Kultur und auf die Gastfreundschaft. Auf ihre obligate Frage, wie uns der Iran denn so gefalle, erwarten sie denn auch eine positive Antwort. Erstaunlich offen aber kritisieren sie auch ihre Regierung. Sie biete ihnen keine Perspektive, sie habe das Land international isoliert, die Wirtschaft sei am Boden. Immer wieder wollen Iraner von uns wissen, ob sie denn in Europa Asyl bekommen würden. Wobei wir feststellen, dass die Iraner genauso wenig über Europa wissen wie ein durchschnittlicher Europäer über den Iran. Mehdi, ein Ingenieur-Student, erzählt uns mit leuchtenden Augen: Die Schweiz sei sein Traumland, er habe immer schon mal in Skandinavien leben wollen.

In Isfahan gibt es auch Unerwartetes. Christliche Kirchenlieder mitten im muslimischen Gottesstaat. Wir besuchen den armenischen Stadtteil. Er entstand im 17. Jahrhundert, nachdem der Shah Armenien erobert und einen Teil der dortigen Bevölkerung in den Iran zwangsumgesiedelt hatte. In diesem Stadtteil gibt es christliche Kirchen. In einer dieser Kathedralen stimmt eine französische Reisegruppe ein Lied an. Ein berührender Moment, wobei ich mich nicht entscheiden kann, ob ich angenehm oder unangenehm berührt sein soll. Aussergewöhnlich ist es auf jeden Fall. In all den Kirchen, die ich schon auf der halben Welt besucht habe, hat jedenfalls noch nie eine Reisegruppe ein Kirchenlied angestimmt. Warum bloss hier?

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Kirche im armenischen Viertel von Isfahan

Wir verlassen Isfahan und fahren in die Wüste. In den kleinen Ort Fahrazeh. Dort gibt es eine Unterkunft, die der Lonely-Planet-Reiseführer in den höchsten Tönen anpreist. Als wir ankommen, sind wir zunächst etwas enttäuscht. Die Zimmer sind extrem schlicht, wir schlafen auf einer dünnen Matraze am Boden. Wir haben zudem schon spektakulärere Wüsten gesehen, etwa in Namibia.

Doch je später der Abend, desto euphorischer werden auch wir. Es ist wieder einmal die Gastfreundschaft, die uns so gefällt. Die Barandaz Lodge, unsere Unterkunft, ist ein Familien-Betrieb. Am Abend essen alle gemeinsam im Innenhof, Familie und Touristen. Und es ist das beste Essen, dass wir in unseren zwei Wochen im Iran geniessen dürfen. Denn diese Klammerbemerkung muss sein: Das Essen ist das einzige, das uns im Iran enttäuscht (dabei liebe ich doch die Gewürze und die Düfte des Landes). Gefühlte hundert Fleissspiesse werden uns in all den Restaurants vorgesetzt, gefühlte hundert trockene Fladenbrote gibts zum Frühstück. Hier, in der Wüste, gibt es dagegen Hausmannskost. Herrlich.

Barandaz Lodge

Nächste Station: Yazd. Umgeben von Wüste. Wieder ein Ort, der uns in seinen Bann zieht. Es sind nicht einzelne Sehenswürdigkeiten, die Yazd zum Erlebnis machen. Es ist die Atmosphäre. Wir lassen uns durch die engen Gassen der Stadt treiben und warten gespannt darauf, was uns alles so begegnet. Kinder, die uns Seifenblasen entgegenschicken. Frauen in schwarzen Umhängen (wir merken: je südlicher im Land, desto strenger die Kleidung). Kupferschmiede, denen man bei der Arbeit zusehen kann. Verkäufer, die McDonalds-Badeschlappen an den Mann bringen wollen (ob McDonalds wohl davon weiss?).

Hier finden wir auch unser liebstes Café: Auf dem Dach des Yazd Arthouse lassen wir unsere Abende ausklingen. Das ist darum so schön, weil Yazd von oben besonders interessant anzuschauen ist. In der Stadt gibt es nämlich Klimaanlagen, die gebaut wurden, bevor es Strom gab: die sogenannten Windtürme. Sie fangen den Wind ein und leiten die frische Luft in die Gebäude. Und weil es in der Oasenstadt Yazd häufig sehr warm ist, gibt es auch besonders viele Windtürme, die man betrachten kann.

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Yazd

Und immer weiter geht es in den Süden. Wir nehmen den Bus nach Kerman – und von dort das Taxi. Wir merken, dass wir uns der Grenze nach Pakistan nähern. Es gibt plötzlich Polizeikontrollen an der Strasse. Der Grund: Über die Grenze werden Drogen in den Iran geschmuggelt. Unser Ziel sind die Shadad Kalouts. Das sind Sandformationen in der Lut-Wüste. Tagsüber ist dort die Hitze selbst zu unserer Reisezeit, im Frühling, unerträglich. Die Temperaturen steigen bis auf 50 Grad.

Glücklicherweise hat unser Taxifahrer eine Klimaanlage im Auto. Wir timen die Fahrt so, dass wir kurz vor Sonnenuntergang in den Kalouts ankommen. Es ist atemberaubend. Wir sind buchstäblich im Nirgendwo. Etwa zehn andere Touristen haben sich mit uns hierher verirrt. Sonst sieht man hier niemanden. Je nach Stand der Sonne wechseln die Felsenformationen ihre Farben. Die aussergewöhnliche Landschaft sieht aus wie in einem Star-Wars-Film.

Kalouts in der Nähe von Kerman

Noch am Abend nach dem Wüstentrip nehmen wir den nächsten Bus, Richtung Shiraz. Mit dem Nachtbus können wir uns eine Übernachtung im Hotel sparen, denken wir uns. Nur erweist es sich als äusserst schwierig, im Bus zu schlafen. Neben uns sitzt eine Frau, die ganz offensichtlich den Weltrekord im Telefonieren aufstellen möchte. Drei Stunden ohne Punkt und Komma redet sie am Handy auf ihren Gesprächspartner ein. Kaum hat sie das Telefon dann doch noch beiseitegelegt, geht plötzlich das Licht an im Bus. Polizeikontrolle. Alle werden kontrolliert, nur wir nicht. Aber das war es dann endgültig mit der Aussicht auf ein wenig Schlaf.

In Shiraz lernen wir, dass der Glaube im Iran nicht einfach bloss staatlich verordnet ist, sondern äusserst lebendig. Wir besuchen die Schah-Tscheragh-Moschee. Hier versammeln sich abends Tausende von Gläubigen. Touristen dürfen nur in Begleitung eines Angestellten der Moschee ins Innere. Es ist eindrücklich zu sehen, was den Gläubigen der Besuch der Moschee bedeutet. Immer wieder berühren sie Gegenstände, die für sie eine spezielle Bedeutung haben. Am Ende unseres Rundgangs durch die Moschee führt uns unser offizieller Begleiter in einen Raum mit der Aufschrift „Foreign Affairs“. Hier werden wir zusammen mit anderen Touristen offiziell empfangen. Wir kommen uns vor wie Staatsgäste, erhalten Tee und Gebäck offeriert und werden nach unseren Herkunftsländern befragt. Nach dem Austausch von Höflichkeiten dürfen wir dann nochmals den gewaltigen Innenhof der Moschee geniessen. Ohne offizielle Begleitung nun, aber mit der klaren Anweisung, keine Fotos mehr zu schiessen.

Schah-Tscheragh-Moschee

Lebendig ist in Shiraz aber nicht nur der Glaube, lebendig ist auch die Verehrung der Dichtkunst. Hafez, der berühmteste Dichter Persiens, ist in einem Masoleum begraben. Der Ort ist eine Pilgerstätte. Es ist berührend zu sehen, wie die Leute mit den Gedichtbänden von Hafez hierher kommen, um den Dichter zu ehren. Obwohl: Die jungen Leute bevorzugen es, Handyfotos zu schiessen, um sie dann auf Instagram zu stellen.

Als letzter Höhepunkt wartet auf uns noch das antike Persepolis. Ein Ort mit einer ähnlichen Magie wie die Akropolis in Athen. Ein Ort, der uns nochmals vor Augen führt, dass wir es in Persien, im Iran, mit einer alten Kultur zu tun haben. Ein Ort, der uns auch nochmals erklärt, warum die Iraner so stolz sind auf ihre Geschichte.

Danach geht es für uns nach Hause. Am Flughafen von Shiraz bestellen wir uns einen Kaffee und staunen nicht schlecht, als wir die Rechung präsentiert erhalten. 20 Franken pro Kaffee. Wir protestieren. Der Verkäufer findet dagegen, der Preis sei okay, schliesslich hätten wir auch noch ein Stück Kuchen dazu erhalten (das wir allerdings nicht bestellt haben). Wir sind perplex. Warum? Weil es das erste Mal in zwei Wochen Iran ist, dass wir übers Ohr gehauen werden. Dass uns jemand abzocken könnte, so wie es einem als Tourist fast überall auf der Welt widerfährt, auf diesen Gedanken sind wir hier nie gekommen.

Persepolis

Das ist es auch, was uns noch weitaus stärker als all die wunderbaren Sehenswürdigkeiten Irans von der Reise bleibt. So viel Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft wie in Iran haben wir noch in keinem anderen Land erlebt.

Da war der Architekturstudent in Shiraz, der uns die Busfahrt bezahlte, weil der Busfahrer unsere grossen Banknoten nicht akzeptierte. Da war die junge Frau, die einen zehnminütigen Umweg in Kauf nahm, um uns einen schönen Innenhof zu zeigen. Da war der alte Mann in Isfahan, der unbedingt einen Schweizer Zweifränkler für seine Münzsammlung haben wollte und uns als Gegenleistung dafür eine Stadtführung anbot. Da war der Bäcker, der uns seine Köstlichkeiten gratis offerierte.

Kinder in Yazd

Der letzte Eindruck, den wir vom Iran mitnehmen, ist übrigens dieser: Kaum hat das Flugzeug in Shiraz abgehoben, entledigen sich fast alle Frauen im Flugzeug ihres Kopftuchs. Sie unterstreichen mit dieser Geste das, was uns unzählige Iranerinnen und Iraner in den vergangenen zwei Wochen als Botschaft auf den Weg gegeben haben: Liebe Leute aus dem Westen, verwechselt doch bitte nicht die Menschen im Iran mit dem Regime der Mullahs. Nicht alles, was uns das Regime befiehlt, finden wir gut.

Wir haben das kapiert.

Fotos: Andreas Beglinger

Der heisseste Ort der Welt

„Ich kann die westlichen Staaten beim besten Willen nicht verstehen.“ Desta, eine energische Frau um die Fünfzig, redet sich ein wenig in Rage. „Ich finde es unfair, dass diese Staaten von Reisen in unsere Wüste abraten.“

Desta, die mit einem Deutschen verheiratet ist, führt das Debre Amo Guest House in Mek’ele, einer Kleinstadt im Osten Äthiopiens. 220’000 Menschen leben hier. Tendenz steigend. Die Stadt boomt. Etliche Hotels befinden sich im Bau und zeugen vom Aufschwung der Stadt. Die Universität lockt viele junge Menschen an. Trotz der unvorteilhaften Reiseempfehlungen zieht aber auch der Wüsten-Tourismus massiv an. „Zu Recht, hier bekommen die Touristen wirklich etwas Einmaliges zu sehen“, findet Desta. Sie ist auch überzeugt, dass der Tourismus in den kommenden Jahren weiter zulegt, aus diesem Grund hat sie in Mek’ele ihr Guest House eröffnet.

Auch wir wollen in die Wüste. Genau gesagt: in die Danakil-Senke. Sie gilt als der heisseste Ort der Welt. Wortwörtlich. Vor allem aber ist die Danakil-Senke eine der geologisch aktivsten Regionen der Welt. Unser grosses Ziel, der Erta Ale, ist einer von nur sechs Vulkanen weltweit, in dessen Kegel sich ein aktiver Lavasee befindet. Fotos von diesem Vulkan haben wir schon viele gesehen, auch eine spektakuläre Dokumentation der BBC. Jetzt wollen wir uns aber selber ein Bild machen.

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Wir haben lange gezögert, hierher zu reisen. Eben wegen der unvorteilhaften Reiseempfehlungen. Auch die Schweiz rät zum Verzicht auf einen Wüstentrip. Der Grund, warum die Danakil-Senke als problematisch gilt: Im Januar 2012 wurden fünf europäische Touristen bei einem Überfall getötet, zwei Touristen wurden entführt und später wieder freigelassen. So richtig aufgeklärt wurde die Tat nie. Äthiopien vermutete, dass Rebellen aus dem nahegelegenen Eritrea über die Grenze gekommen seien. Eritrea dementierte.

Wir haben uns trotzdem für die Reise entschieden, weil mehrere ortskundige Leute uns versichert haben, dass Äthiopien seit dem Überfall die Grenze zu Eritrea peinlich genau kontrolliere. Und wir haben uns bei deutschen Reisebüros erkundigt, die Touren hierher anbieten. Auch sie hielten den Trip für unbedenklich. Ein gewisses Mass an Sicherheit sollen zudem die lokalen Reiseveranstalter garantieren. Touristen dürfen nämlich nur organisiert und in der Gruppe in die Danakil-Senke reisen. Jede Gruppe wird von bewaffneten Sicherheitsleuten begleitet. Das war allerdings schon beim Attentat so. Die Geländewagen fahren in Konvois. Falls ein Auto im Wüstensand stecken bleibt, können es die anderen Autos mit vereinten Kräften aus dem Dreck ziehen.

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Und so finden wir uns am Montagmorgen im Büro von Ethio Travel And Tours in Mek’ele ein. Es ist eine bunte Gruppe. 15 Touristen aus aller Welt. Wir teilen uns das Auto mit zwei Reisenden, die beide schon ewig unterwegs sind und die halbe Welt bereist haben. Alejandro aus Mexiko und Kazuyoshi aus Japan. Dagi, unser äthiopischer Fahrer, ist trotz seines noch jugendlichen Alters ein Wüstenfuchs. Unzählige Male sei er schon in die Danakil-Senke gefahren. Ihn selber langweilen diese Fahrten mittlerweile und er träumt von einem Leben als Reiseführer für deutschsprachige Touristen in Addis Ababa. Seine Zeit im Auto vertreibt er sich mit Discomusik aus den 70er-Jahren. Immer wieder denke ich während der Reise, wie bizarr es ist, mitten in der äthiopischen Wüste den alten Schweden von Abba zuzuhören, wie sie sich „A Man After Midnight“ wünschen.

Aber zurück an den Anfang unserer Reise. Wir fahren über eine Strasse, die für afrikanische Verhältnisse in einem unfassbar guten Zustand ist. Gebaut wurde sie nicht für die Menschen der Afar-Volksgruppe, die hier in der Gegend als Nomaden leben. Gebaut wurde sie auch nicht für Touristen. Chinesische Firmen haben Strassen in der Gegend erstellt, weil es einige Bodenschätze gibt. Vor allem Kali, das in verschiedenen Minen abgebaut wird. Und wo Bodenschätze sind, da sind in Afrika Firmen aus China, Europa oder Nordamerika nie weit. Kommt hinzu, dass via Strasse der Warentransport aus Äthiopien an den Hafen von Djibouti schneller möglich ist.

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Die Fahrt von der Studentenstadt Mek’ele hinunter in die Danakil-Senke ist die Fahrt in eine andere Welt und in eine andere Zeit. Die Dörfer der Afar-Nomaden haben kein fliessendes Wasser, Strom liefern einzig vereinzelte Generatoren. Viele der Hütten sind Holzkonstruktionen, die schnell ab- und an einem anderen Ort wieder aufgebaut werden können.

Die Menschen leben von der Viehzucht und vom Salzabbau, den sie in der Wüste vorantreiben. Sie profitieren teilweise von der Entwicklungshilfe von internationalen Organisationen. Und sie leben von Subventionen des äthiopischen Staates selber, der die Nomaden jedoch dazu ermuntern möchte, sesshaft zu werden. Die Lebensbedingungen sind hart. Die Danakil-Ebene liegt unter dem Meeresspiegel, die Temperaturen sind kaum auszuhalten. Bald zeigt das Thermometer 50 Grad Celsius. Zum Glück ist unser Auto klimatisiert. Die Afar aber, sie müssen diese Hitze täglich aushalten.

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Immer wieder begegnen wir diesen Nomaden auf unserem Weg zum Vulkan. Links und rechts vom Auto hüpfen Kinder in den Fussballtrikots von Manchester United und dem FC Barcelona barfuss über die glühend heissen Steine. Die letzten Kilometer zum Vulkan führen über eine fürchterliche Rumpelpiste. Unser Fahrer bezeichnet sie als „schlechteste Strasse der Welt“. Wobei Strasse nicht das passende Wort ist.

Es ist pickelhartes, vulkanisches Gestein, über das sich unser Geländewagen nur im Zeitlupentempo bewegen kann. Zu Fuss wären wir schneller als im Auto. Aber angesichts der höllischen Temperaturen ist dies für uns keine Option.

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Am späten Nachmittag erreichen wir schliesslich eine Ansammlung von etwa zehn Hütten. Unser Basislager. Von hier aus besteigen wir den Vulkan. Eigentlich ist der Aufstieg ja ein Kinderspiel. Der Krater liegt auf lediglich 613 Metern über Meer. Wären da nicht die Temperaturen. Wir müssen warten, bis die Sonne untergeht, weil die Wanderung in der Hitze mörderisch wäre. Dann montieren wir unsere Stirnlampen und marschieren los. Auf halben Weg zum Gipfel dringt allmählich ein schwefeliger Geruch in unsere Nasen. Wir riechen, dass dies kein gewöhnlicher Berg ist. Der Nachthimmel ist zart rot gefärbt – je näher wir dem Gipfel kommen, desto roter wird er.

Dann haben wir es geschafft. Der Anblick ist umwerfend. Unbeschreiblich. Das gewaltigste Naturschauspiel, das ich je gesehen habe. Graue Lavaschollen werden von riesigen Kräften hinuntergezogen. Immer wieder schiessen glühende Lavafontänen in die Luft. Es ist, als ob wir am Tor zur Hölle stehen. Die Einheimischen sind überzeugt, dass hier der Teufel wohnt. Ein durchaus nachvollziehbarer Aberglaube.

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Auch für uns ist beim Erta Ale eine gehörige Portion Nervenkitzel inbegriffen. Stünde dieser Vulkan irgendwo in Europa, dann würden uns Verbotsschilder weit weg vom Kraterrand halten. Hier gibt es keine Schilder. Bis vor einigen Jahren war die Danakil-Senke eine No-Go-Area, weil die Afar-Region als zu unruhig galt. Aus diesem Grund gibt es auch noch keine touristische Infrastruktur – und keine Regeln. Die eigene Vernunft muss uns befehlen, wo wir Halt machen. Ich halte mir meinen Schal als Atemschutz vor das Gesicht und starre in die brodelnde, orangefarbene Lavasauce. Ich könnte stundenlang einfach starren, weil es ein derart berauschender Anblick ist. Es braucht nach etwa zwei Stunden schon eine sanfte Aufforderung unserer Reiseleiter, die uns vom Kraterrand weglockt.

Einige hundert Meter von Kraterrand entfernt übernachten wir. Unsere Schlafsäcke müssen wir auf dem Boden kleiner Holzhütten ausbreiten. Die Matratzen, die uns versprochen wurden, haben es nicht auf den Berg geschafft. Eigentlich hätten Kamele unsere Schlafunterlage transportieren sollen, doch der Bauer mit den Tieren war nicht wie verabredet in der kleinen Siedlung am Fuss des Berges anzutreffen. Also haben wir halt keine weiche Unterlage zum Schlafen. In dieser Nacht nehmen wir das gerne in Kauf. Wir wissen: Wir ruhen ohnehin bloss etwa vier Stunden, dann geht es nochmals zurück an den Kraterrand, damit wir dort den Sonnenaufgang geniessen können.

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Dann, um 6 Uhr morgens, ist Abmarsch. Wir müssen rechtzeitig zurück bei unseren Geländewagen sein. Rechtzeitig, bevor die Hitze wieder unerträglich ist. Auf dem Programm steht an unserem zweiten Tag ansonsten nicht mehr viel. Es geht mit dem Auto etwa vier Stunden zurück in das nächstgelegene grössere Dorf. Dort werden wir in einem Haus einquartiert, wo wir auf ein paar Matratzen am Boden übernachten können. Nach der harten Nacht zuvor ist dies ein richtiger Luxus. Und wir kriegen eine Dusche. Keine normale Dusche, sondern eine „afrikanische Dusche“, wie unsere Reiseführer lächelnd erklären. Das heisst: Ein Kessel Wasser, den wir uns über den Kopf kippen können. Herrlich!

Am anderen Morgen früh machen wir einen Spaziergang durchs Dorf. Die Kinder sind ganz aufgeregt, als sie uns sehen. „China Photo“, rufen sie in Richtung unserer Gruppe. Wir wissen zunächst nicht, was sie uns damit mitteilen wollen, merken dann aber, dass sie wohl unseren netten japanischen Mitreisenden für einen Chinesen halten und ihn bitten, dass er sie fotografiert. Falsch gedacht: Die Kinder rufen auch uns „China Photo“ zu. Unser Reiseleiter klärt uns lachend auf: „Vor einigen Jahren haben in diesem Dorf chinesische Arbeiter gewohnt, die die Strasse gebaut haben. Seither halten die Kinder hier alle hellhäutigen Menschen für Chinesen.“

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Wenig später steigen wir wieder in unsere Autos und fahren über diesen chinesischen Highway. Nach etwa fünf Stunden kommen wir wieder in eine Afar-Siedlung, wo wir später die Nacht in einer Art Hängematte verbringen. Wir lassen unser Gepäck dort – und fahren zum Assale-Salzsee. Der See ist ein Spektakel.

Die Salzschichten sind dick, die Wasserschicht darauf nur ganz dünn, so dass man buchstäblich über Wasser gehen kann. Wir gelangen an ein kleines Wasserloch. Es sieht aus wie ein natürlicher Swimmingpool. Und tatsächlich lässt sich darin baden. Allerdings ist die Badehose nachher stocksteif vor lauter Salz – und für den Rest der Ferien (abseits aller Waschmaschinen) nicht mehr zu gebrauchen.

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Höhepunkt an diesem dritten Tag ist der Sonnenuntergang am Rand des Salzsees. Sonnenuntergänge in Afrika sind ohnehin meist spektakulär (ja, die Farben am Himmel sind wirklich anders), dieser Sonnenuntergang ist jedoch besonders. Der See spiegelt den Himmel. Unser Fahrer dreht das Autoradio auf.

Die äthiopischen Soldaten, die uns sicherheitshalber begleiten und ansonsten so schweigsam sind, tanzen plötzlich zum Disco-Sound, der aus unseren Lautsprechern kommt. Und sie schwenken dabei ihre Kalaschnikow-Gewehre. Ein bizarrer Anblick.

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Nach einer herrlichen Nacht unter dem äthiopischen Sternenhimmel fahren wir am vierten Tag unserer Exkursion weiter in die Salzpfanne hinein und sehen etwa 30 Männern bei der Arbeit zu. In dieser unwirtlichen Gegend bauen sie Salz ab. Eine unfassbar harte Arbeit bei unmenschlichen Temperaturen.

Die dürren, ausgemergelten Männer schlagen mit langen Stangen Salzquadrate aus dem Boden. Anschliessend bearbeiten diese Quadrate, so dass sie alle gleich gross sind. Dann werden die Quadrate auf Kamele geladen. Die Kamele transportieren das Salz in die äthiopische Hochebene – zum Beispiel nach Mek’ele.

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Gegen Mittag fahren wir weiter. Zum letzten Höhepunkt unserer Reise. Nach Dallol. Es ist eines der aussergewöhnlichsten Geothermalgebiete der Welt. Hier, ganz in der Nähe der Grenze zu Eritrea, werden die höchsten durchschnittlichen Jahrestemperaturen der Erde registriert. 120 Meter unter dem Meerespiegel liegt Dallol.

Ich weiss, was mich hier erwartet. Ich habe es auf Fotos gesehen. Ein farbiges Spektakel. Die vulkanische Wärme bringt das Grundwasser zum Ansteigen. Dabei werden Mineralien gelöst, die an der Oberfläche in heissen Quellen und kleinen Salzgeysiren abgelagert werden. Eine sehr farbige Welt mit dem Gelb des Schwefels, dem Weiss der Salze und den Braun- und Rottönen der verschiedenen Oxide.

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Vor Ort sieht es dann aber noch spektakulärer aus als auf den Fotos. Als Kind habe ich mir so einen fremden Planeten vorgestellt. Jonas, unser äthiopischer Reiseführer, gibt klare Anweisungen: Gelb ist verboten. Auf keinen Fall dürften wir auf gelbe Flächen treten.

Er erzählt uns Schauermärchen von Touristen, die sich hier die Beine verätzt hätten. Also machen wir einen Bogen ums Gelbe. Dann, nach zwei Stunden in diesem Wunderland, drängt Jonas zum Aufbruch. In der Nachmittagssonne, erzählt er, wären die schwefeligen Dämpfe nicht mehr auszuhalten.

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Es geht zurück nach Mek’ele. Zurück in die Zivilisation. Zurück zu normalen Temperaturen. Wir verabschieden uns von unserem Fahrer Dagi, unseren zwei Mitreisenden Alejandro und Kazuyoshi. Sie waren vier Tage lang die besten Freunde, die man sich vorstellen kann. Eine solche Reise ohne jeglichen Komfort schweisst zusammen – und sei es nur, weil man sich gegenseitig mit Feuchttüchern aushilft, um den Staub vom Körper zu wischen.

Und wie gefährlich war die Reise in die Danakil-Senke nun tatsächlich? Keine Ahnung, ehrlich gesagt. Ich habe mich sicherer gefühlt als im Jahr zuvor in Rio de Janeiro. Dort warnen einen die Einheimischen permanent vor den Gefahren der Stadt. Dies schränkt das Wohlbefinden ein. In den vier Tagen in Danakil dagegen gab es keine einzige Situation, in der ich mich unwohl gefühlt habe. Allerdings ist das auch nicht verwunderlich. Meistens fuhren wir durch eine menschenleere Landschaft.

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Fotos: Andreas Beglinger

Am Ende der Welt

Der Kellner seufzt. Er wirkt wenig erfreut, dass wir in seinem Restaurant essen und trinken wollen. Betont langsam geht er in die Küche, um die Speisekarten zu holen – nach ein paar Minuten hat er sie dann gefunden und legt sie uns auf den Tisch. Mit einem neuerlichen Seufzer.

An einem anderen Ort auf der Welt würden wir uns vielleicht über den Kellner aufregen – zumal die Preise im „Te Moana“ gesalzen sind. Hier wäre es seltsam sich aufzuregen. Wir sitzen auf der Veranda des Restaurants und blicken auf die Hauptstrasse von Hanga Roa, der einzigen Ortschaft der Osterinsel. Während wir auf unseren frischen Fisch warten, zieht das Leben in Zeitlupe an uns vorbei. Menschen, von denen es keiner eilig zu haben scheint. Ein Pferd, das niemandem gehört. Stets im Ohr: das Rauschen des Pazifiks. Und was passt besser zu einem derart entschleunigten Ort als ein entschleunigter Kellner?

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Der gemächliche Lebensrhythmus ist die grösste Kostbarkeit der Osterinsel. Kostbar deshalb, weil die Wahrzeichen der Insel, die grossen Steinskulpturen, weltberühmt sind – und eigentlich Heerscharen von Touristen anlocken müssten. Der Tourismus ist zwar tatsächlich die wichtigste Einnahmequelle der Insel, aber er wirkt deutlich weniger aufdringlich als anderswo. Sogar die Skultpturen, die Moai, hat man bisweilen minutenlang für sich alleine.

Möglich ist dies, weil Rapa Nui, wie die Osterinsel in der Sprache der Einheimischen heisst, einer der abgelegensten Orte der Welt ist. Politisch gehört das Eiland zu Chile, die Hauptstadt Santiago ist jedoch fünf Flugstunden entfernt. Und auch bis zum nächsten bewohnten Stück Land sind es mehr als 2000 Kilometer. Touristen, die hierher kommen, sind Überzeugungstäter. Überzeugt, dass sich die lange Reise lohnt.

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Wir steigen in einen kleinen Geländewagen und lassen Hanga Roa hinter uns. Auf einer holprigen Sandpiste fahren wir der Küste entlang. Die Landschaft ist karg, Steinbrocken säumen den Weg, es gibt viel Gras, ein paar Sträucher, keine Bäume. Die grossen Palmwälder auf der Osterinsel haben die Bewohner vor mehr als 500 Jahren abgeholzt. Eine von Menschenhand verursachte Naturkatastrophe, deren Folgen heute noch sichtbar sind. Der Wind pfeift über die Insel und der Boden ist schutzlos der Erosion ausgesetzt. Ein schlechter Ort für Landwirtschaft. Die meisten Lebensmittel für die knapp 6000 Bewohner der Osterinsel und für die Touristen müssen daher aus Chile eingeflogen werden – das erklärt die relativ teuren Restaurants.

Die Sandpiste schlängelt sich landeinwärts den Hügel hinauf – und plötzlich stehen sie vor uns: sieben Steinkolosse. Die erste Begegnung mit den Moai ist atemberaubend. Die sieben Kerle sind etwa zehn Meter gross und tonnenschwer. Sie blicken vom Hügel herab stoisch aufs Meer hinaus – und das macht sie aussergewöhnlich. Alle anderen Moai blicken nämlich landeinwärts. Warum das so ist, dafür gibt es keine stichhaltigen Erklärungen.

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Diese Aura des Unerklärlichen umgibt alle Steinskulpturen auf der Osterinsel. Ihre Geschichte ist voller Rätsel. Angefangen bei ihrer Bedeutung. Was symbolisieren sie? Warum wurden sie errichtet? Keiner weiss es. Als gesichert gilt, dass die Bewohner der Osterinsel zwischen 1250 und 1500 mehrere hundert Moai aus dem Felsen des Vulkans Rano-Raraku schlugen und sie an verschiedene Orte auf der Insel transportierten. Warum die Produktion später eingestellt wurde, das weiss hingegen niemand – noch heute liegen im Steinbruch unzählige unfertige Moai.

Der erste Europäer auf der Insel war der holländische Seefahrer Jacob Roggeveen. Er „entdeckte“ sie an Ostern 1722 und gab ihr ihren heutigen Namen. Damals waren die Moai auf der Insel alle noch intakt. Fünfzig Jahre später lagen sie am Boden, waren teilweise zerstört. Die Gründe dafür liegen ebenfalls im Dunkeln.

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Heute stehen auf der Osterinsel wieder mehrere Moai-Formationen. Wissenschaftler haben sie im 20. Jahrhundert wieder aufgebaut – auch die sieben Steinkerle, die vor uns stehen und aufs Meer hinaus schauen. Wir lassen sie zurück als Bewacher unseres Geländeautos, packen Windjacken und Wasserflaschen in unsere Rucksäcke – und steigen weiter den Hügel hinauf. Das Ziel: der Maunga Terevaka – mit rund 520 Metern die höchste Erhebung der Osterinsel. Der Aufstieg dauert knapp zwei Stunden, immer wieder werden wir begleitet von Wildpferden. Je höher wir steigen, desto kühler ist es. Hier, mitten im Pazifik, sinken die Temperaturen rasch, wenn man auf einen Hügel steigt. Der Gipfel des Maunga Terevaka schliesslich ist so flach, dass wir ihn als solchen kaum erkennen würden, stünde da nicht ein kleines Steinhäufchen. Umso beeindruckender die Aussicht. Ein 360-Grad-Panorama über die ganze Insel und weit und breit sehen wir keine anderen Menschen.

Zurück in Hanga Roa sind wir wieder zwar wieder unter Menschen – aber selbst auf die Touristen wirkt die Langsamkeit der Insel ansteckend. Zwei Schweizer Frauen, denen das chilenische Bargeld ausgegangen ist, nehmen gelassen zur Kenntnis, dass alle vier Bankomaten auf der Insel leer sind. Dann stellen sie sich halt in der einzigen Bank von Hanga Roa in die Warteschlange und warten zwei Stunden auf ihr Geld.

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Wir wohnen ausserhalb von Hanga Roa. Unserem Gastgeber Christophe hat es der Lebensrhythmus der Insel ebenfalls angetan. Der Franzose absolvierte seinen Militärdienst in Tahiti, freundete sich mit der polynesischen Kultur an und besuchte mehrere Inseln – auf der Osterinsel gefiel es ihm am Besten. Er heiratete eine Einheimische, wurde Vater von zwei Kindern – und vermietet nun das Nebengebäude seines Eigenheims an Touristen. Zurück nach Europa? Undenkbar. In Paris finde er sich bei seinen Besuchen ob der Hektik kaum mehr zurecht, sagt er. Zudem vermisse er dort die Sonnenuntergänge.

Unseren ersten Sonnenuntergang erleben wir auf der Veranda des Restaurants „Te Moana“. Unser Kellner hat mittlerweile seine schlechte Laune abgelegt. Vermutlich, weil wir seinen Kaffee zu schätzen wissen. Der junge Mann kommt mit einem Köfferchen an unseren Tisch und öffnet es mit einer theatralischen Geste. Darin befinden sich Nespresso-Kapseln in ganz verschiedenen Farben, wir dürfen unsere persönliche Kaffee-Kapsel aussuchen – und es bleibt die Gewissheit: Am anderen Ende der Welt ist offenbar Schweizer Kaffee der letzte Schrei.

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Fotos: Andreas Beglinger

Auf den Spuren des Jaguars

Plötzlich sind wir umzingelt. Im Süden, in unserer Fahrtrichtung, türmt sich eine riesige Wolkenwand auf – es blitzt und donnert, als ob uns die Wettergötter heute besonders beeindrucken wollen. Für Joao, unseren Fahrer, ist sogleich klar: Wir sollten besser wenden und zurück in unsere Unterkunft fahren. Nur: Ohne dass wir es bemerkt hätten, hat sich auch in unserem Rücken eine ähnliche Wolkenwand aufgebaut. Zwei Gewitter treffen sich – und wir sind mittendrin. Rasend schnell ist es stockdunkel – und ein gewaltiger Regenguss kommt vom Himmel. Die breite Lehmstrasse, auf der wir unterwegs sind, wird in Sekundenschnelle zu einer Schlammpiste. Gut, dass Joao dieses Strasse wie seine Westentasche kennt und uns durch das Gewitter steuert.

Wir sind im Mittleren Westen von Brasilien. Im Pantanal, einem der weltweit grössten Binnenland-Feuchtgebiete. Zwar hat die Regenzeit noch nicht begonnen, aber das heftige Gewitter gibt uns einen Vorgeschmack, wie es sich anfühlt, wenn der Regen nicht mehr aufhört und alles überschwemmt. Das viele Wasser ist aber bereits jetzt ein Problem. Zurück in unserer Pousada, also in unserer Unterkunft, zeigt sich unser Fahrer Joao besorgt: Er wisse noch nicht, ob wir morgen tiefer ins Pantanal eindringen könnten. Die Strasse sei derzeit kaum passierbar.

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Durch das Pantanal führt nämlich nur eine einzige Strasse, die Transpantaneira – und unsere nächste Unterkunft ist ganz am Ende der insgesamt 145 Kilometer. Handyempfang gibt es lediglich bis etwa Kilometer 80. Wenn wir danach mit unserem Auto stecken bleiben, könnte es ungemütlich werden. „Dann müssen wir stundenlang warten, bis zufälligerweise irgendjemand mit dem Auto vorbeikommt, um uns aufzulesen“, sagt Joao. Und dass unser Auto stecken bleibt, ist jederzeit möglich – nicht nur wegen der Schlammpiste. Auch die mehr als 100 Holzbrücken auf der Strecke sind teilweise in einem prekären Zustand.

Am nächsten Morgen sieht die Welt, respektive das Pantanal, dann aber schon viel freundlicher aus. Das Gewitter hat sich verzogen und die Sonne trocknet die Strasse allmählich ab. Riccardo, der uns die nächsten Tage als Reiseführer begleitet, begrüsst uns beim Frühstück mit hochgerecktem Daumen. Joao habe grünes Licht geben, sagt Riccardo, unserem Abenteuer stehe nichts mehr im Wege.

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Riccardo ist ein knapp 40-jähriger Italiener. Er ist Hobby-Fotograf und hat sich vor ein paar Jahren bei einer Reise in das Pantanal verliebt. Daraufhin hat er gemeinsam mit Joao, der in der Gegend aufgewachsen ist, das kleine Unternehmen „Wild Pantanal“ gegründet. Dieses bietet Safaris durch das Feuchtgebiet an. Riccardo arbeitet hart für seinen Traum, irgendwann ganz von seinem Reiseunternehmen leben zu können – und nicht mehr sechs Monate pro Jahr nach Italien zurückkehren zu müssen, um dort als Handwerker Geld zu verdienen.

Riccardos Leidenschaft ist unser Glück. Er ist keiner dieser Reiseleiter, die ihr Programm lustlos herunterspulen. Er teilt mit uns seine Faszination für einen Flecken Erde, der fast so gross ist wie Deutschland, aber in Europa kaum bekannt. Ein Flecken Erde, der sehr dürftig erschlossen ist und wo kaum Menschen leben, dafür umso mehr Tiere. Es gibt im Pantanal mehr Vogelarten als in ganz Europa.

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Wir sind jedoch nicht nur wegen der vielen Vögel hierher gekommen, sondern in erster Linie um den ungekrönten König des Pantanals zu sehen: den Jaguar. Nirgendwo gibt es so viele dieser Raubkatzen wie hier. Dennoch ist es ziemlich aufwändig, sie aufzuspüren. Nach den vielen holprigen Kilometern mit dem Auto steigen wir am Ende der Transpantaneira um auf ein kleines Boot und schippern damit über die vielen Seitenarme des Rio Cuiaba, die alle fast identisch aussehen. Unsere Safari findet auf dem Wasser statt, weil es im Dickicht der Sumpflandschaft gar kein Durchkommen für ein Auto gäbe.

Wir brauchen Durchhaltevermögen, nach vielen Stunden auf dem Fluss haben wir noch immer keinen Jaguar gesichtet. Das ist insofern locker verschmerzbar, als wir einer Gruppe von Riesenottern zuschauen, wie sie im braunen Wasser ihre frisch gefangenen Fische zwischen ihren Zähnen zermalmen. Wir sehen Kaimane vorbeischwimmen, kleine Alligatoren, die einzig in Südamerika vorkommen. Und am Flussufer stehen immer wieder Capybaras: Nagetiere, die aussehen wie zu gross geratene Meerschweinchen mit Schwimmhäuten.

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Dann ist es so weit. Riccardo deutet aufs Ufer. Ein Jaguar pirscht sich durch das Gebüsch. Wobei uns sogleich auffällt, wie gut er getarnt ist mit seinem Fell, das sich kaum von der Umgebung abhebt. Da braucht es schon ein geübtes Auge, um nicht achtlos am Tier vorbeizufahren. Vom Fluss aus können wir den Jaguar eine halbe Stunde lang beobachten, wie er dem Ufer entlang läuft – und dann schliesslich über den Fluss schwimmt. Im Gegensatz zu anderen Raubkatzen sind Jaguare alles andere als wasserscheu.

Es ist ein beeindruckendes Tier – etwas kleiner als ein Löwe, aber grösser als ein Leopard. Wie viel Kraft ein Jaguar hat, erzählt uns Riccardo später beim Abendessen. Er zeigt uns Fotos, die er vor einem Jahr geschossen hat. Sie zeigen einen Jaguar, der sich durchs Wasser einem Kaiman nähert, ihn anspringt und schliesslich mit einem gezielten Biss in den Hals tötet. Ein Youtube-Film dieser Attacke ist um die Welt gegangen.

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Es ist ein intensives Naturerlebnis. Die Sonne brennt gnadenlos auf uns nieder, die Temperatur steigt auf 40 Grad im nicht vorhandenen Schatten. Im Fluss können wir uns nicht abkühlen, weil dort Piranhas und Kaimane schwimmen. Manchmal sind wir eine Stunde lang unterwegs, ohne anderen Menschen anzutreffen. Der Tourismus hier nimmt zwar allmählich zu, ist aber – anders als bei Safaris in Afrika – kein Massenphänomen.

Für uns geht es nach vier Tagen aus der Wildnis wieder zurück in die Zivilisation. Zurück über die Transpantaneira. Kaum haben wir die Lehmpiste verlassen und nähern uns dem Flughafen von Cuiaba, da fängt es wieder an, sintflutartig zu regnen. Zum Glück erst jetzt – keine Ahnung, ob in den kommenden Tagen eine Reise ins Jaguar-Gebiet überhaupt noch möglich gewesen wäre.

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Fotos: Riccardo Boschetti/Andreas Beglinger